Wettbewerbe und Wertungsspiele: Was, wenn’s toll wird?
Musikalische Herausforderungen für Blasorchester am Beispiel des Flicorno d’oro
Sie alle haben diese Diskussion schon geführt: Kann Musik bewertet werden? Ist es nötig, Orchester miteinander zu vergleichen? Wettbewerbe oder Wertungsspiele: Für was überhaupt? Und was passiert mit der Vereinsgemeinschaft, wenn die Punkte nicht üppig ausfallen?
Am Beispiel des internationalen Wettbewerbs Flicorno d’oro in Riva del Garda, der am Palmsonntag-Wochenende stattfand, möchte ich darlegen, dass es überaus bereichernd für Blasorchester sein kann, sich der musikalischen Herausforderung zu stellen. Hilfe habe ich mir bei neun sehr verschiedenen Blasorchestern bzw. deren Dirigenten gesucht, die am diesjährigen Flicorno d’oro teilnahmen.
Ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung geht an Manuel Scheuring (Symphonisches Blasorchester Volkach, DE), Thomas Asanger (Sinfonisches Blasorchester Perg, AT), Wolfgang Schwabl (Bürgermusik Saalfelden, AT), Michael Geiger (Musikkapelle Lengfurt, DE), Josef Söllinger (Bezirksorchester Grieskirchen, AT), Sebastian Lastein (Soonwaldorchester, DE), Paul Jacot (Schwäbische Bläserphilharmonie Neckar-Teck, DE), Gottfried Reisegger (Musikverein Lohnsburg, AT) und Dominik Wagner (Filder Wind Symphony, DE).
Warum gerade der Wettbewerb in Riva del Garda?
Das Symphonische Blasorchester Volkach ist ein „Wiederholungstäter“. Es war 2009 schon einmal in Riva und wusste somit, was es in Riva erwartet. Das Orchester sehnte sich nach einer Orchesterfahrt wegen des gemeinschaftlichen Aspekts. Sowohl das Sinfonische Blasorchester Perg als auch die Filder Wind Symphony feiern in diesem Jahr ein Jubiläum. Eine Reise an den Gardasee war somit ein Geburtstagsgeschenk an die jeweiligen Musiker:innen. Fast alle Dirigenten stellten fest, dass der Flicorno d’oro nicht nur eine besondere musikalische Herausforderung für das Orchester ist, sondern sich auch positiv auf die Orchestergemeinschaft auswirkt. Sebastian Lastein dazu: „Ein Wettbewerb in Italien am Gardasee verbindet gleich zwei Sachen miteinander: Einmal der Wettbewerb an sich, mit der Möglichkeit sein Können unter Beweis zu stellen und eine Orchesterreise nach Bella Italia.“
Für die Musikkapelle Lengfurt steht im Vordergrund ganz klar „das gemeinschaftliche Erlebnis“, wie es Dirigent Michael Geiger ausdrückt. Leistungsorientierter spricht sich Paul Jacot aus: „Unser Orchester hat sich entschieden, am Wettbewerb Flicorno d’oro in Riva del Garda teilzunehmen, um uns einer neuen künstlerischen Herausforderung zu stellen. Wir glauben fest daran, dass gemeinsame Ziele und Herausforderungen uns enger zusammenbringen und unsere Leistung als Ensemble verbessern können.
Darüber hinaus sehen wir den Wettbewerb als eine Gelegenheit, uns mit anderen Orchestern aus verschiedenen Regionen auszutauschen und neue kulturelle Perspektiven kennenzulernen. Wir schätzen den kulturellen Austausch und hoffen, durch unsere Teilnahme internationale Anerkennung für unsere musikalische Arbeit zu gewinnen und unser Orchester einem breiteren Publikum bekannt zu machen.
Nicht zuletzt lieben wir es, unseren Wettbewerbsgeist zu zeigen, unsere Freude an der Musik zu demonstrieren und unser Bestes zu geben.“ Der Ehrgeiz der Musikerinnen und Musiker der Schwäbischen Bläserphilharmonie Neckar-Teck hat sich gelohnt: Herzlichen Glückwunsch zum Gesamtsieg des Flicorno d’oro und zum 1. Platz in der Categoria Eccellenza, der höchst-möglichen Kategorie bei diesem Wettbewerb!
Erwartungshaltung im Vorfeld des Wettbewerbs
Die Erwartungshaltung im Vorfeld des Wettbewerbs war eher eine Vorfreude! Wolfgang Schwabl dazu: „Wir freuen uns auf einen bestens organisierten Wettbewerb, auf die Bewertung unseres Musizierens durch eine hochkarätige internationale Fachjury, auf das freundschaftliche Kräftemessen mit Orchestern aus anderen Regionen und Ländern, und nicht zuletzt auf viele musikalische Erlebnisse und Begegnungen im Rahmen dieses großen Events.“ Josef Söllinger: „Die Erwartungen sind einerseits neue Erfahrungen sammeln zu dürfen, andererseits sich vielleicht auch neue Ideen und Inspirationen zu holen.“ Dominik Wagner äußert sich: „Wir erwarten uns ein spannendes und aufregendes Wochenende, hoffen, dass der Ablauf des Wettbewerbs gut umgesetzt werden kann, da die 60 Orchester zu koordinieren eine große Herausforderung für die Organisation sein muss. Wenn wir dann noch musikalisch alles im Vorfeld erarbeitete gut abrufen können fahren wir alle wieder glücklich heim.“ Und Manuel Scheuring schreibt zur Erwartungshaltung des Orchesters im Vorfeld: „An den Wettbewerb selbst haben wir keine konkreten Erwartungen. Das wäre meiner Meinung nach auch der falsche Ansatz. Prinzipiell können wir von der Teilnahme nur profitieren, die Orchestergemeinschaft stärken und uns durch eine intensive Vorbereitung auf den Wettbewerb auch musikalisch weiterentwickeln.“
Die Kategoriewahl
Beim Flicorno d’oro (im Folgenden abgekürzt mit FDO), stehen fünf Leistungskategorien zur Auswahl. Sie sind nicht unbedingt vergleichbar mit den Kategorien der Wertungsspiele der BDMV oder dem ÖBV. Die tiefste Kategorie, die Terza Categoria, entspricht schon in etwa einer Mittel- bis Oberstufe, in BDMV-Sprache „Kategorie 3 – mittel“ (1 = Sehr leicht, 6 = extrem schwer) oder in ÖBV-Sprache „Leistungsstufe B“ (A ist die leichteste Stufe, E die schwerste in der Erwachsenen-Wertung).
Es ist weise, sich bei der Kategorie-Wahl am jeweiligen Pflichtstück zu orientieren.
Thomas Asanger zu seiner Entscheidung, in der Categoria Superiore anzutreten: „Die Musik von Thomas Doss ist dem Orchester sehr vertraut und sie übt auch eine besondere Faszination auf unsere Musikerinnen und Musiker aus.“ In der Categoria Superiore war The Stone Guardans von Thomas Doss Pflichtstück. Wolfgang Schwabl hat sich nicht nur genau das Pflichtstück angesehen, sondern sich auch Rat bei Kollegen geholt, die bereits am FDO teilgenommen haben oder bereits Jurymitglied waren. Josef Söllinger begründet die Wahl der Prima Categoria so: „Wir spielen in der Kategorie „Prima“, wobei wir lange hin und her überlegt haben zwischen „Superiore“ und „Prima“. Die Gründe für unsere Entscheidung sind vielfältig, wobei einer der Hauptaspekte jener war, dass unser Orchester keine fixe Besetzung hat, sondern sich von Projekt zu Projekt jedes Mal neuformiert. Dadurch ist das Niveau und auch die Leistungsbereitschaft im Vorhinein nur schwer abzuschätzen. In der Probenphase haben wir jetzt gemerkt, dass unsere Entscheidung genau richtig war, was auf keinen Fall heißen soll, dass wir kein sehr hohes Niveau oder eine geringe Leistungsbereitschaft haben.“ Das Soonwaldorchester hat sich auch auf Grund des geforderten Pflichtwerkes entschieden. Sebastian Lastein dazu: „Wir haben uns für die Kategorie „Excellence“ entschieden. Das Pflichtstück Colores von Jan Van der Roost hat es uns sehr angetan. Dennoch ist dieses Werk eine enorme Herausforderung für das Orchester. Die Klänge, die dort herausgearbeitet werden müssen, zeigen die komplette Bandbreite an Farben auf, die ein symphonisches Blasorchester zum Klingen bringen kann.“ Die Filder Wind Symphony hat sich bewusst, wie viele andere Orchester auch, entschieden, eine Stufe tiefer als „daheim“ anzutreten. Dominik Wagner: „Wir haben uns bewusst für die 1st Kategorie entschieden. Nach den Erfahrungen beim deutschen Auswahlorchesterwettbewerb in der Höchststufe wollten wir mehr Möglichkeiten haben in der Musik ins Detail gehen zu können, zudem sind wir ein Projektorchester und zu Anmeldebeginn war noch nicht zu 100% klar wie die Besetzung aussehen wird und wie viele Probetermine wir für die Vorbereitung umsetzen können. Dazu kam ein sehr originelles, neues Pflichtwerk mit einer eigenen Klangsprache, welches man im Vorfeld auch nur über eine Midiaufnahme anhören konnte, also brandneue Musik, die es zu entdecken galt. Immer spannend für einen Dirigenten.“
Das Selbstwahlstück
Mit der Wahl des eigenen Werkes kann das Orchester bei Wettbewerben gewohntes Terrain betreten. Es kann perfekt nach den Stärken des Ensembles ausgewählt werden und auch nach der vorhandenen Besetzung. Wolfgang Schwabl beschreibt seine Entscheidung für die Auswahl so: „Unser Selbstwahlstück Canzona di Bacco von Oliver Waespi kristallisierte sich für mich aus einem Kanon von ca. 40 Werken heraus. Kriterium war für mich, die Stärken unseres Orchesters möglichst gut zur Geltung zu bringen. Zudem sollte es ein Stück sein, das vielschichtig ist und „in die Tiefe“ geht. Die Canzona ist dafür ein perfektes Beispiel, denn auch nach wochenlangem Partiturstudium findet man immer wieder neue Details, Ideen, Ansätze, die das Stück sowohl für den Dirigenten als auch für das Orchester sehr interessant und abwechslungsreich machen. Auch die Tatsache, ein relativ neues Werk (Kompositionsjahr 2022) ins Programm zu nehmen, war mir wichtig.“ Gottfried Reisegger: „Wir haben uns für El Camino Real entschieden. Mit dem Komponisten Alfred Reed haben wir eine besondere Beziehung, zumal er (für mich) einer der größten und besten Blasorchesterkomponisten ist und er mit unserem Orchester 1993 eine Probe machte. Seither haben wir viele Stücke von Reed aufgeführt. Mich faszinieren der Farbenreichtum und die Explosivität bei diesem Werk.“ Auch Thomas Asanger hat sich für ein Werk von Alfred Reed entschieden: „Als Selbstwahlstück haben wir Praise Jerusalem von Alfred Reed ausgewählt. Wir haben dieses Stück bereits vor einigen Jahren zur Aufführung gebracht. Die Beschäftigung mit der Musik von Alfred Reed – im Speziellen mit diesem Stück – empfinde ich äußerst spannend. Selbst nach mehrmaliger Aufführung wird die Musik nicht langweilig. Das zeichnet gute Musik meiner Meinung nach auch aus, dass nicht jede Raffinesse beim ersten Hinsehen erkennbar ist, sondern verschiedene Lesarten zu entdecken sind – wie bei einem guten Buch.“
Für Dominik Wagner war es wichtig, ein Werk zu finden, das von der Klangsprache ein totaler Kontrast zum Pflichtwerk ist. Für Paul Jacot waren bei der Auswahl des Selbstwahlstückes drei Aspekte wichtig: „Unser Selbstwahlstück für den Wettbewerb Flicorno d’Oro ist Requiem for a future war von Hardy Mertens. Diese Wahl beruht auf mehreren Überlegungen. Erstens ist das Stück selbst natürlich ein musikalischer „Brocken“, das eine tiefgreifende emotionale Wirkung hat und sowohl künstlerisch anspruchsvoll als auch technisch herausfordernd ist. Zweitens ermöglicht uns dieses Stück, unsere Vielseitigkeit als Orchester zu demonstrieren. Drittens passt das Thema des Werkes, das sich mit den Auswirkungen des Krieges auseinandersetzt, gut zu unserem Wunsch, musikalisch relevante und bedeutungsvolle Botschaften zu vermitteln.“ Josef Söllinger hat sich bei der Auswahl des Selbstwahlstückes beraten lassen: „Unser Selbstwahlstück ist The Ascension, der 3. Satz aus der 1. Sinfonie von Robert W. Smith, welche besser bekannt ist unter ihrem Untertitel The Devine Comedy. Dieses Werk, beziehungsweise nur der dritte Satz, ist beim Wettbewerb auch in der Selbstwahlliste angegeben. Unsere Erfahrung mit unserem Orchester der letzten Jahre ist, je mehr ein Werk programmatisch wirkt oder auch ist, desto schneller finden die jungen Musiker:innen einen Zugang dazu. Wir haben uns im Vorfeld auch bei Dirigenten informiert, welche bereits beim Flicorno d´oro dabei waren, von welchen uns dieses Werk auch nochmals empfohlen worden ist. Nachdem es eine grandiose Komposition ist, Spaß macht zu spielen und auch großartig anzuhören ist, haben wir uns schlussendlich dafür entschieden.“
Die Wettbewerbsvorbereitung
Manuel Scheuring erzählt von der Vorbereitungszeit des Symphonischen Blasorchesters Volkach: „Im Prinzip bereite ich das Orchester auf den Wettbewerb genauso wie auf jedes andere Wertungsspiel vor – für den Wettbewerb in Riva nur noch etwas intensiver und sehr zielgerichtet. Besonders wichtig bei der Vorbereitung speziell auf diesen Wettbewerb sind mir natürlich die üblichen musikalischen Parameter wie Zusammenspiel, Intonation usw. Viel wichtiger ist mir aber persönlich, dass ich meinen Musikern den Druck für das Vorspiel nehmen kann, sodass sie frei musizieren können.“ Wolfgang Schwabl sieht die größten Vorteile des Wettbewerbs in der Vorbereitung bzw. den Proben: „Unabhängig von der Teilnahme an diesem Wettbewerb ist mir die kontinuierliche musikalische Weiterentwicklung, die Horizonterweiterung des Orchesters und der einzelnen Musiker:innen mit gleichzeitiger Berücksichtigung des kameradschaftlichen Aspektes wichtig. Behutsame, sich steigernde musikalische Anforderungen, sind meiner Meinung die Grundlage für eine langfristige positive Entwicklung eines Amateurorchesters.
Die Vorbereitung auf den Flicorno 2024 begann für die Musikkapelle mit der Einstudierung unseres Selbstwahlstückes sowie der Aufführung von diesem Werk im Rahmen unseres Cäciliakonzertes im November 2023. Seit Jänner 2024 befinden wir uns nun in der „heißen Phase“ der Vorbereitung, die mit zahlreichen Satz-, Register- und Teilproben gepflastert sind. Nach zwei intensiven Probeneinheiten mit dem wettbewerbserfahrenen Südtiroler Josef Feichter Anfang März freuen wir uns nun auf unseren Auftritt.“ Und auch Josef Söllinger sieht in der Vorbereitung auf einen Wettbewerb den Mehrwert durch die Konzentration auf zwei Werke und die Chance, diese bis ins Detail zu erarbeiten. Auch er setzte, wie Wolfgang Schwabl, auf Unterstützung von „außen“: „Die Vorbereitung auf einen Wettbewerb hat für mich einen ganz speziellen Reiz. Man kann ein Werk vollkommen in seine kleinsten Bausteine auseinandernehmen und bearbeiten. Bei einer Konzertvorbereitung bleibt dabei im Vergleich nahezu nie die Zeit, so genau ins Detail zu gehen. Dabei steht für mich immer in erster Linie die Idee des Komponisten, der Komponistin im Vordergrund. Der schmale Grat, diese bestmöglich abzubilden, ohne dabei auf die persönliche musikalischen „Handschrift“ zu verzichten, ist hier mehr als spannend. Anders als bei unseren anderen Projekten, wo wir jeweils einmal auf mehrtägigen Probenseminaren sind, proben wir hier über einen längeren Zeitraum am Wochenende, meist zwei Tage hintereinander. Dies hat den Hintergedanken, dass das Orchester länger Zeit hat, sich aufeinander einzuspielen und auch immer wieder Phasen des Selbststudiums zu ermöglichen. Wir proben nicht immer im Tutti, sondern nutzen bei Probentagen die Möglichkeit Holz, Blech und Schlagwerk voneinander zu entkoppeln. Auch eine Feedbackprobe mit niemand geringerem als Martin Fuchsberger (Universität Mozarteum Salzburg) steht bei uns am Programm für die Vorbereitung und wir nutzen die Möglichkeit der Teilnahme eines Kritikspiels bei einer Konzertwertung des OÖBVs.“
Der Stellenwert von Wettbewerben und Wertungsspielen
Es ist keine Überraschung, dass für Orchester, die sich für den FDO in Riva del Garda entscheiden, Wettbewerbe und Wertungsspiele einen sehr hohen Stellenwert haben. Für Manuel Scheuring und seine Musiker:innen aus Volkach gehört es im Jahresturnus einfach dazu, bei einem Wertungsspiel oder Wettbewerb teilzunehmen. Das wurde nach seiner Aussage von seinen Musiker:innen auch noch nie in Frage gestellt. Auch Thomas Asanger spricht von regelmäßigen Teilnahmen: „Ich nehme mit meinen Orchestern regelmäßig an nationalen Wettbewerben teil. Zugegeben, wer hat bei der Einstudierung eines gesamten Konzertprogrammes innerhalb von wenigen Monaten die Zeit, sich allen Details und Schichten einer Partitur zu widmen?
Dirigentinnen und Dirigenten sind da gefordert, besonders effizient und zeitsparend zu proben. Ein Wettbewerb bietet die Möglichkeit, zwei bis drei Kompositionen intensiv und in aller Tiefe zu proben. Somit ist die Teilnahme an Wettbewerben für die musikalische Weiterentwicklung eines Orchesters unerlässlich.“ Genau wie Wolfgang Schwabl: „Die Bürgermusik ist ein Orchester, welches in den letzten Jahren, fast schon Jahrzehnten, sehr regelmäßig und durchaus erfolgreich an Konzertwertungsspielen im Salzburger Land teilgenommen hat. Die Herausforderung eines solchen Wertungsspieles gefällt uns und gibt mir und vielen meiner Musiker*innen einen gewissen „Kick“. Zudem ist die regelmäßige Teilnahme an solchen Wertungsspielen für mich persönlich der Garant, dass man „am Puls der Zeit“ bleibt und eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Klangkörpers vorantreibt.
Wichtig ist für mich in Hinblick auf Bewertung und Punkte, dass der Fokus immer auf dem eigenen Orchester und dem Fortschritt eben diesem bleibt, und das „Konkurrenzdenken“ hintenangestellt ist. Für mich persönlich geht es um die Entwicklung unserer Musikkapelle: Wo waren wir am Beginn der Vorbereitung – wo sind wir am Ende. Gab es einen Fortschritt und wie groß war dieser. Das sind meiner Meinung nach die wirklichen Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg.“
Es gibt aber auch skeptische Stimmen. Beispielsweise Josef Söllinger: „Ehrlicherweise war ich lange skeptisch, ob Wettbewerbe, vor allem im Amateursektor, wirklich sinnvoll sind. Springt man jedoch über seinen eigenen Schatten und ist so einen Weg mal mit einem Orchester gemeinsam gegangen, merkt man erst, welch enormes Potenzial hier ausgeschöpft werden kann. Ganz neue Erfahrungen wie zum Beispiel im Auftrittsmoment das Vorbereitete abzuliefern, sich schnell auf eine ungewohnte Hörsituation einzustellen, oder auch einen erreichten Erfolg gemeinsam zu feiern, sind Aspekte, welche eben erst durch einen Wettbewerb erfahrbar werden. Dabei sehe ich, und ich denke auch mein Orchester, das Ergebnis im Sinne der Platzierung eher als zweitrangig an. Für mich selbst ist es der erste internationale Wettbewerb, welchen ich dirigieren darf. Der olympische Gedanke, dabei sein ist alles, steht im Vordergrund, was jedoch natürlich nicht heißt, dass wir nicht unser Bestmögliches geben.“ Und Gottfried Reisegger stellt nochmals die Wichtigkeit der Vorbereitungszeit bei der Frage nach dem Stellenwert in den Vordergrund: „Ich finde, das Wichtigste, bei einem Wettbewerb ist der Weg dorthin. Zu sehen, wie weit kann ich mit einem Amateurblasorchester musikalisch kommen? Es spielen ja hier nicht nur musikalische Faktoren eine Rolle, sondern da ist viel Menschliches, Pädagogisches und Persönliches dabei.
Beim Wettbewerb kann man dann sehen, mit welchem investiertem Aufwand man dann wo steht.“
Pro / Contra Wettbewerbe bzw. Wertungsspiele
Die Zusammenfassung der Aussagen der neun Dirigenten zur Pro-/Contra-Frage.
Pro:
- Intensive und motivierte Vorbereitung
- Kontakt und Austausch zu anderen Vereinen und Orchestern und dadurch eine Horizonterweiterung
- Musikalische Weiterentwicklung des Orchesters
- Die intensive Beschäftigung als Kapellmeister/Dirigent und Orchester mit qualitätsvollen Konzertwerken
- Ein Langzeit-Lerneffekt durch die tiefe Beschäftigung beispielsweise mit Stilistik o. ä.
- Motivation der Musiker:innen durche eine eventuelle hohe Punktzahl und Platzierung
- Die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls, das füreinander Einstehen und der damit verbundene Zusammenhalt
- Bewertung, Rückmeldung bzw. Feedback durch erfahrene Juroren
- Steigerung des Wettbewerbsgeist und des Ehrgeizes
- Gezielte Vorbereitung von und Konzentration auf zwei Werke(n)
- Detailarbeit kommt zukünftiger Konzertvorbereitung zu Gute
- Das konstruktive Feedback an den Dirigenten / an die Dirigentin
Contra:
- Die Schwierigkeit, Musik zu bewerten
- In der Musik geht es mehr um Emotionen und wenig um rationale Ergebnisse
- Punkte können nicht der einzige Gratmesser für Erfolg oder Misserfolg sein
- Es gibt zu viele Geschmacksaspekte von unterschiedlichen Juroren – Kunst ist Geschmacksache
- Der Zeitpunkt der Aufführung kann sich auf die Rangliste auswirken
- Demotivation der Musiker:innen durch eine eventuelle niedrige Punktzahl
- Starre Strukturen durch Bewertungskriterien, Pflichtstück und Ablauf
- Es kann nur das momentane Resultat bewertet werden und nicht der durchlaufene Prozess
- Jury sind auch nur Menschen und ein Wettbewerbstag ist lang und anstrengend
- Wettbewerbsdruck kann zu Stress und Angst führen
- Wettbewerbe legen den Fokus auf den Wettbewerbsaspekt und schränken die künstlerische Freiheit ein
- Wettbewerbe sind kostspielig für das Orchester und haben einen hohen organisatorischen Aufwand
Thomas Doss, einer der beiden Jury-Präsidenten beim FDO in Riva bedauert, dass es dort nicht möglich ist, direkt auf die einzelnen Blasorchester einzugehen und ihnen ein direktes Feedback – außerhalb der Punkte – zu geben: „Neben der Bepunktung der Leistungen könnte man anmerken, dass es schade ist, dass die Orchester kein Feedback bekommen. Somit fällt der pädagogische Aspekt völlig raus. Und es bleibt eigentlich nur mehr der pure Wettbewerb. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man nach Riva fährt. Das wäre vielleicht besonders für jene Orchester interessant, welche sich eher im mittleren Segment der Platzierungen wiederfinden.“
Interessantes Experiment beim Österreichischen Blasmusik Forum
Ein paar Tage nach dem FDO in Riva del Garda wurde in Ossiach/Kärnten, beim Österreichischen Blasmusik Forum, ein sehr interessantes Experiment durchgeführt. Es gibt bei Wettbewerben immer wieder die Diskussion, dass die Jury besser hinter einem Vorhang platziert wird und nicht weiß, welches Orchester auf der Bühne sitzt. Mit dem Verbergen des Orchesters vor den Augen der Juror:innen soll auch verhindert werden, dass visuelle Aspekte den musikalischen Eindruck verfälschen. In Ossiach wurde eine Konzertwertung mit dem anwesenden Teilnehmer:innen-Orchester durchgeführt. Das Teilnehmer:innen-Orchester spielte fünf verschiedene Werke, teilweise in zwei oder drei verschiedenen Fassungen. Für die verschiedenen Fassungen gab es jeweils eine „optimale“ Aufführung und ein oder zwei „präparierte“ Fassungen. Beispielsweise bekamen die Musiker:innen bzw. die Dirigent:innen die Aufgabe ein Werk mit komplett falschen Tempi zu spielen. Mit der Besetzung wurde gespielt und das 90-Mann/Frau-Orchester auf 30 Spieler:innen beispielsweise reduziert. Einmal auch mit unausgewogener Besetzung. Eine Anweisung war, die übliche Klangpyramide zu negieren und besonders die hohen Bläser in großer Lautstärke spielen zu lassen. Und so weiter. Juriert haben 40 Juror:innen des Österreichischen Jurorennetzwerkes. 20 hinter einer mobilen Wand und 20 davor. Dabei ist herausgekommen, dass sich die Ergebnisse, also die erreichte Punktzahl pro Werk bzw. Werkfassung, gar nicht großartig unterscheiden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass hinter dem Vorhang mehr oder weniger Punkte als davor gegeben wurden.
Podiumsdiskussion: Lässt sich Musik bewerten?
Im Rahmen des Österreichischen Blasmusik Forums gab es eine sehr interessante Podiumsdiskussion mit Wettbewerbs-erfahrenen Persönlichkeiten: Johanna Heltschl, Jacob de Haan, Thomas Ludescher, Andreas Schaffer, Johann Mösenbichler und Herbert Klinger. Erich Riegler sprach in seiner Eigenschaft als Präsident des Österreichischen Blasmusikverbands. Die Moderation oblag dem Bundeskapellmeister Helmut Schmid. Die Podiumsdiskussion war quasi Auftaktveranstaltung der Tagung des Juror:innen-Netzwerkes.
Einige wichtige Aussagen der Podiumsteilnehmer habe ich notiert:
Für Andreas Schaffer ist das pädagogische Prinzip wichtig: Wie spielt das Orchester jetzt im Vergleich zu vor ein paar Jahren? Besonders für Jugendliche ist es wichtig zu wissen, was bewertet wird und warum. Hier sollte im Vorfeld bereits ein Grundsatzwissen vermittelt werden.
Johanna Heltschl plädierte dafür den Mut zu haben auch mit sehr jungen Musiker:innen zu einem Wettbewerb zu gehen. Die musikalische Leitung ist dabei zwar sehr gefordert, aber ein externes Feedback hat enorm viel Mehrwert für die junge Orchestergemeinschaft.
Auch Jacob de Haan findet konstruktive Hinweise, was verbessert werden kann, im Jury-Gespräch sehr wichtig. Wenn er als Juror eingesetzt wird, ist seine persönliche Frage Nr. 1: Sind Emotionen in der Aufführung?
Er merkte auch an, dass die meisten Jurorenteams aus fast ausschließlich Männern bestehen und verglich das auch mit der Runde auf dem Podium: Sechs Männer, eine Frau!
Johann Mösenbichler hat mir sein ausführliches Statement zu diesem Thema nochmals schriftlich zukommen lassen:
Johann Mösenbichler: “In der ersten Runde der „kurzen Statements“ der Diskutierenden auf der Bühne wollte ich durchaus etwas provokant zum Nachdenken anregen.
Daher meine erstes Statment zur Frage „Kann Musik bewertet werden“:
Nein – ABER
Ja – ABER
In der zweiten Runde habe ich natürlich meine kurzen Aussagen erläutert und begründet. Hier einige wenige Aspekte in aller Kürze, aber im Bewusstsein, das ein derart komplexes Thema nicht in wenigen Sätzen abgehandelt werden kann.
Grundsätzlich musste und muss ich häufig feststellen, dass vor allem nach Fehler gesucht wird. Das Positive, das gut Gespielte, die überzeugende Interpretation (auch wenn diese nicht zwingend meine persönliche, daher immer auch subjektive Meinung ist) findet viel zu oft deutlich zu wenig Beachtung.
Natürlich gibt es viele durchaus klare Bereiche die auch klar zu bewerten sind. Zum Beispiel: zu kurz – zu lang; zu früh – zu spät; zu hoch – zu tief; u.s.w.. Bei der Frage wie hoch die Menge der zu vergebenden oder auch abzuziehenden Punkte ist, ist es aber mit einer klaren Definition schon wieder vorbei.
Abhängig vom allgemeinen musikalischen Ausbildungsstand, vom persönlichen Geschmack, von eigenen Klangvorstellungen wird es immer eine subjektive Einschätzung eines jeden Juryrenden sein.
Daraus ergibt sich für mich in aller Deutlichkeit die Notwendigkeit der Aus- und vor allem auch der kontinuierlichen Fortbildung für Juroren:innen. Dabei ist der Prozess der Diskussion, der Kommunikation, des Verständlichmachens warum jemand etwas so bewertet hat ein zwingend notwendiger Inhalt einer solchen Fortbildung.”
Im nächsten Jahr wird der Flicorno d’oro vom 11. bis 13. April 2025 durchgeführt. Gut einen Monat später findet das Deutsche Musikfest mit einem großen Angebot verschiedener Wertungsspiele und Wettbewerben vom 29. Mai bis zum 1. Juni 2025 statt. In Österreich gibt es sowieso jedes Jahr nationale Konzertwertungen.
Falls Ihr noch nie oder schon lange nicht mehr an einem Wertungsspiel oder Wettbewerb teilgenommen habt: Traut Euch, wagt die Herausforderungen, denn: Es könnte ja toll werden!