Donnerstag, November 21, 2024
MusiklebenOrchesterprojekte

Live-Thriller-Hörspiel mit Blasmusik: „Narrenfreiheit“ aus dem Mainzer Schloss mit „AHA“

Ein Gastbeitrag von Silvia Casado Schneider

„Narrenfreiheit“ ist ein symphonisches Live-Thriller-Hörspiel für Blasorchester von und mit Sebastian W. Wagner. Der Gründer und einst Besitzer des privaten Theaters „Showbühne“ in Mainz hat, inspiriert von der kulturellen Entwicklung im Bereich des Hörspiels hin zum Format des Live-Hörspiels (statt nur Studioaufnahmen) und seiner Arbeit mit dem hr2-RadioLiveTheater, gedacht, warum nicht ein Hörspiel auf Mainz – eine der Fastnachtshochburgen – gemünzt live auf die Bühne bringen. Als zentrales Thema wählte er den Cum-Ex-Skandal, bei dem Unmengen von Steuergeldern unterschlagen wurden. Die Charaktere hat er sich passend zur Region ausgedacht, allen voran Kommissar Maywald gesprochen vom langjährigen Ensemblemitglied Patrick Twinem. Er besticht durch seine rheinhessische Gelassenheit.

NarrenFreiheit Plakat
NarrenFreiheit Plakat

Sebastian W. Wagner zum Einsatz des sinfonischen Blasorchesters bei seinem Live-Thriller-Hörspiel: „Sinfonische Blasorchester sind einfach in ihrem Aufbau sehr differenziert. Man hat sehr hohe, mittlere und starke tiefe Klangmöglichkeiten. Die Modulationsfähigkeiten von Blasinstrumenten – es ist großartig“, schwärmt der Komponist. „Außerdem habe ich diese Art von sinfonischem Blasorchester erweitert. Unser Schlagwerk benutzt vom Theremin* bis zu den Mülltonnen eine ganze Menge spannender Sachen und natürlich sind diesmal eine ganze Menge Akkordeons mit dabei. Ich kombiniere quasi ein Tasteninstrument mit Blasorchester- bzw. Blasmusikeigenschaften, also die Nachmodulationsfähigkeit eines Tones miteinander. Das ist im Klang äußerst spannend. Mal eine ganz neue Sache oder ein ganz neuer Weg wie man mit Blasorchestern umgehen kann.“

Der Weg: Prinzip Hoffnung und „AHA“

Die Musiker*innen erhielten bereits 2 – 3 Monate vor dem ersten Probewochenende, wie bei Projektorchestern üblich, ihre Noten zur häuslichen Vorbereitung. Ergänzend dazu standen noch Übe-Playbacks zur Verfügung. Die Teilnehmer*innen kamen vorwiegend aus Rheinland-Pfalz und Hessen. Einige kannten sich bereits von anderen Projekten und freuten sich auf das gemeinsame Musizieren. An den beiden Probewochenenden fanden Register- und Tuttiproben statt. Die Motivation und Stimmung im Orchester war durchweg gut. Es war wie immer. Während sie auf ihren Plätzen saßen und musizierten vergaßen sie, dass draußen gerade eine Pandemie tobt.

Das komplette Projekt war geprägt vom Prinzip Hoffnung und den geltenden Abstands- und Hygieneregeln. Kulturelle Projekte stellen während Corona per se schon eine Herausforderung dar, da u. a. die Planungssicherheit als tragende Säule fehlt. Aber ein Projekt mit Rund 80 Musiker*innen und Künstler*innen – Amateure, Semi-Professionelle und Profis – innerhalb von zwei Probewochenenden auf die Beine zu stellen während dieser Zeit, stellte den Produzenten Showbühne Musicals e. V. vor zahlreiche neue Herausforderungen.

  • Wo kann geprobt werden?
  • Gibt es überhaupt Orte, wo unter Einhaltung aller Vorschriften geprobt werden kann?
  • Welche Coronabekämpfungsverordnung wird gelten?
  • Wird das Hygienekonzept akzeptiert werden?
  • Kann bzw. darf die Premiere im Frankfurter Hof wie geplant stattfinden?
  • Mit oder ohne Publikum? Live-Stream? Alternative Orte für Premiere suchen?
  • Passt das Finanzierungskonzept noch?
  • Kann das Projekt überhaupt realisiert werden?

Dies ist nur ein Teil der Fragen, denen sich der Vorstand von Showbühne Musicals e. V. stellen musste.

An zwei Wochenenden wurden die Räumlichkeiten einer ehemaligen Bildungseinrichtung der Stadt Mainz für die Register- und Tuttiproben, sowie für den Chor und die Sprecher nach allen geltenden Regeln vermessen und hergerichtet sowie desinfiziert. Dabei zahlten sich die Vorüberlegungen aus, denn z. B. kann man die Musiker*innen direkt an die Wand setzen; ebenso die Vorgehensweise, dass man erst einmal wirklich die Maße aller Räume zusammenträgt bevor man mit der Planung beginnt. Eine gewisse Erleichterung gab es für das zweite Probewochenende, da aufgrund der gesunkenen Coronazahlen die Abstände zwischen den Bläsern reduziert werden konnten. Dabei musste man u. a. beachten, dass bei manchen Blasinstrumenten vom Stuhlrand und bei anderen von der Stuhlmitte aus gemessen werden musste. Aber durch diese Abstandsreduzierungen konnten alle gemeinsam im großen Saal proben und der Chor musste z. B. nicht wie am 1. Wochenende per Live-Stream zugeschaltet werden.

Zum Konzept für das Orchester gehörte auch die Entscheidung den Dirigenten in die Mitte des Orchesters zu stellen, was in klanglichen und physikalischen Überlegungen begründet liegt. Bei den geltenden Abstandsregelungen hätte es mit einem klassischen Dirigat vorne eine Informationsverzögerung zwischen dem Dirigenten und der Musikerin bzw. dem Musiker in der letzten Reihe von ca. 2 s gegeben, was v. a. bei den relativ rhythmischen Stücken intolerabel gewesen wäre, denn damit kann man kaum arbeiten, was das Timing anbelangt. Indem die Musiker*innen rund um den Dirigenten platziert worden sind, wurde auch die Schallverzögerung zwischen den Musiker*innen verkürzt und durch die Sitzordnung zugewandt zueinander lief der Schall jedes einzelnen Instruments zentriert zueinander. Diese Sitzordnung – zueinander und zum Dirigenten zu sitzen – war auf jeden Fall ein Gewinn für die Musiker*innen.

Natürlich stellt solch ein „360°-Dirigat“ eine wesentlich höhere Anforderung an Wahrnehmung, Organisation und Körperlichkeit an den Dirigenten.

Die Hygiene- und Abstandsregeln waren für Musiker*innen, Sprecher*innen und den Chor wie ein Ritual: vor betreten des Gebäudes Mund-Nasen-Schutz auf, dann Hände desinfizieren, Abstände zu den anderen Personen nach Vorgaben einhalten, den ausgewiesenen Wegen folgen, … , am Ende des Tages Instrumente einpacken, das eigene Kondenswasser vom Boden wegwischen, Hände desinfizieren und zum Schluss immer die Flächendesinfektion des eigenen Platzes.

Live-Thriller-Hörspiel Narrenfreiheit

Durch die Möglichkeit im Mainzer Schloss die Premiere feiern zu dürfen, konnte sie vor Publikum stattfinden, da das Mainzer Schloss mehr Platz als der Frankfurter Hof bietet. Alle Künstler*innen freuten sich sehr vor Publikum spielen zu dürfen, statt vor leeren Stuhlreihen. Aufgrund von Corona fiel die Entscheidung für einen Live-Stream bereits im Frühjahr. Dieser musste natürlich in Profihände (GO TV) gegeben werden. Insgesamt waren es am Ende 8 Kameras, davon 5 bemannt und 3 stationär für den Gegenschnitt. Beim Technikpult (FOH), der Techniksupport wurde von TLV Ritter übernommen, wurde eine Bildregie eingerichtet, die live alles zusammenschnitt und den Kameraleuten über Mikrophone Anweisungen während des Konzertes gab. Man muss beachten, dass für einen stabilen Stream eine Uploadgeschwindigkeit von ca. 20 MBit pro Sekunde benötigt wird.

Der Live-Stream wurde sehr gut angenommen. Man konnte sich auch noch einen Tag danach die Premiere zeitverzögert anschauen. Bei der Kalkulation ist aufgrund der Erfahrung zu beachten, dass sich im Schnitt 2 – 3 Zuschauer ein Stream-Ticket teilen. Somit darf dieses nicht günstiger wie ein reguläres Ticket sein oder es müssen absehbar entsprechend viel mehr Personen eines erwerben. Bei diesem gemeinnützigen Projekt stand im Vordergrund, dass man auch jenen Personen einen Zugang zu diesem wunderbaren Konzert ermöglicht, die gerade nicht ihr zu Hause verlassen wollen, können oder dürfen.

Es war ein Wunder, das Prinzip Hoffnung, an das alle ganz fest glaubten, das Engagement der Vorstandsmitglieder von Showbühne Musicals e. V. und aller Künstler, die Unterstützung der Schirmherrin Frau Grosse – Kulturdezernentin der Stadt Mainz – oder … vermutlich alles zusammen, jeder kleine Beitrag, was zum Gelingen dieses Kulturprojektes beigetragen hat. Man hat wieder einmal bewiesen, dass man es gemeinsam schaffen kann und es auf jede und jeden einzelnen ankommt.

Die Musiker*innen waren dankbar, dass man sich dieser Mammutaufgabe gestellt hatte. 

Premiere im Mainzer Schloss

Knisternde Stille erfüllt den großen Saal des Mainzer Schlosses bevor Sebastian W. Wagner umgeben von rund 80 Musiker*innen und Künstler*innen im 360° Modus zu dirigieren beginnt, denn nur so konnten alle geltenden Abstandsvorschriften umgesetzt werden. Die verschiedenen Stimmungen der einzelnen Szenen, die teilweise einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen und Gänsehaut erzeugen, werden durch die großartige Modulationsfähigkeit der Blasinstrumente optimal ausgedeutet. Zur Erzeugung der passenden geräuschhaften musikalischen Untermalung wie beim Krimi, wenn z. B. der Sniper auf Jagd geht oder Hr. Maywald in der Natur des Hunsrück recherchiert, wird mit den Händen geraschelt, auf den Klappen geklappert oder das Mundstück ohne Rohr genutzt. Ergänzt wird der differenzierte Klangkörper des sinfonischen Blasorchesters durch Synthesizer, Akkordeons, Geräuschemacher, der menschlichen Stimme und den Einsatz z. B. von Mülltonnen im Schlagwerk.

Die lateinischen (Sprech-)Gesänge des Chores verleihen dem ganzen Stück etwas Unheimliches und Rätselhaftes, aber gleichzeitig wird dadurch die Spannung gesteigert. Die menschliche Stimme ist mindestens ebenso vielfältig und modulationsfähig wie die Blasinstrumente und wird hier dementsprechend gezielt und gekonnt eingesetzt, wodurch sie der Musik bzw. den Stimmungen ihre ganz besondere Farbe verleiht.

Die Story: Ein Handy klingelt. Ein Zischen. Sirenen ertönen. Vor der brennenden Wagenhalle des Mainzer Fastnachtsvereins liegt der legendäre Wagenbauer Dietmar Wiesner. Erschossen. Mitten ins Herz. Dies ruft Kommissar Maywald und die Gerichtsmedizin auf den Plan. Er wird es mit einem professionellen Killer, der aus Genuss und Leidenschaft eiskalt tötet, zu tun bekommen. Der Sniper, gesprochen von Sebastian W. Wagner, macht auch vor Maywald selbst nicht halt. Jede und jeder, die/der von dem Geschäft, bei dem viel Geld von den Konten des Finanzamtes auf drei Briefkastenfirmen verschoben worden ist, weiß, schwebt in Lebensgefahr. Es wird klar, dass ein Menschenleben für manche Vermögende schlichtweg irrelevant ist. Diesem Geschäft ist bereits Michael Bär vom Verwaltungsrat der LBBW auf der Spur.

Was mit einer Leiche vor der brennenden Wagenhalle des Mainzer Fastnachtsvereins begann, endet mit einem Selbstmord während des Rosenmontagsumzugs begleitet von lateinischen Sprechchören.

Aufgrund des Live-Streams aus dem Mainzer Schloss fand am 2.10.20 im wahrsten Sinne des Wortes die Weltpremiere von „Narrenfreiheit“ statt. Das Publikum im Schloss und zu Hause vor den Bildschirmen er- und durchlebte 120 min. voll Spannung, Nervenkitzel, rheinhessischem Humor und musikalischer sowie künstlerischer Höchstleistung unter Covid-Bedingungen. Das Publikum bedankte sich mit tosendem Applaus und Standing Ovations.

Schon während der Pause hörte man die Zuschauer im Foyer sagen: „Endlich mal wieder Kultur. Endlich mal wieder was anderes als Krise, Problem und Bewältigung.“

Die verbalen Rückmeldungen im Nachhinein unterstreichen die Reaktion des Publikums im Schloss: „Beeindruckt.“ „Es war überwältigend.” „Ich bin begeistert.“

Im Prinzip waren viele einfach dankbar für die Möglichkeit nach so vielen Monaten wieder ein anderes Thema wahrzunehmen.

Die Schirmherrin Frau Grosse dankte allen Mitwirkenden für ihr kulturelles Engagement.

Der „Tausendsasser“ Sebastian W. Wagner

Sebastian W. Wagner ©Silvia Casado Schneider
Sebastian W. Wagner ©Silvia Casado Schneider

Sebastian W. Wagners künstlerische Laufbahn begann 1998 als Darsteller und später musikalischer Leiter bei der Kleinkunstbühne Posthofkeller in Hattersheim. Später erfolgte ein Studium der Musikwissenschaft und Musikpädagogik mit den Hauptfächern Klavier und Gesang an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Wagner arbeitete u. a. drei Spielzeiten lang bei den Brüder-Grimm-Märchen-Festspielen in Hanau, den Mainzer Kammerspielen und der städtischen Bühne in Lahnstein. Desweiteren arbeitet Sebastian W. Wagner als Klavier- und Gesangslehrer, Komponist, Chorleiter sowie als freiberuflicher Musiker, Autor und Darsteller.

Sebastian W. Wagner leitete von 2006 bis 2016 das private Theater Showbühne in der Großen Bleiche in Mainz und ist aktuell Vorsitzender des Vereins Showbühne Musicals e. V. Leider musste die Showbühne Mainz zum 31.12.2016 aufgrund von Umbauplänen des Vermieters ihren Spielbetrieb einstellen. Während seines zehnjährigen Wirkens in der Showbühne Mainz schrieb er 24 abendfüllende Programme die alle Genre von humorvollen, satirischen Shows bis hin zu Musikkabarettprogrammen abdeckten. Sebastian W. Wagner war bei allen Stücken stets Entwickler, kreativer Kopf, vor, auf und hinter der Bühne, Komponist, Darsteller, …, sorgte für gute Laune und eine adressatengerechte Umsetzung seiner Werke.
Durch sein eigenes privates Unterhaltungstheater konnte er seine Ideen umsetzen, sich weiterentwickeln und neue Formate ausprobieren. Diesem Prinzip ist er treu geblieben. Er begab sich auf eine Reise in die Welt der symphonischen Blasmusik und entdeckte ungeahnte Möglichkeiten für die musikalische Umsetzung seiner neuesten Passion: Live-Krimi-Hörspiele.

Showbühne Musicals e. V.

Showbühne Musicals ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Mainz, der aus dem „harten Kern“ der ehemaligen Showbühne in Mainz heraus entstanden ist. Mittlerweile haben sich weitere Musiktheaterbegeisterte dem Verein angeschlossen und unterstützen somit die zeitgenössische Musiktheaterarbeit. Ohne namhafte Sponsoren für die Projekte und Förderer könnten sie die Kulturwelt allerdings nicht weiter bereichern und keine neuen Stücke auf die Bühne bringen. Der Verein freut sich sehr, dass bereits zum 3. Mal für ein kulturelles Projekt Frau Grosse als Schirmherrin gewonnen werden konnte.

Informationen zum Verein, den Projekten und weiteren geplanten Aufführungen finden Sie auf showbuehne-musicals.de.

Autorin: Silvia Casado Schneider

Quellen: Interview mit Sebastian W. Wagner 30.09.2020 und Premiere von „Narrenfreiheit“ am 02.10.2020

*Theremin: ein 1920 erfundenes elektronisches Musikinstrument

©Fotos – sofern nicht anders bezeichnet – Valentina Hering

Alexandra Link

Musik ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens. Musizierende Menschen zusammen zu bringen meine Leidenschaft.

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