Über die Notwendigkeit von Schwierigkeitsgraden in der Blasmusik
Über Sinn und Notwendigkeit von Schwierigkeitsgraden bei Blasorchesterwerken lässt sich diskutieren. Ob sich jetzt die amerikanischen Kriterien, die schriftlich festgehalten sind, auf alle Werke überstülpen lassen, oder umgekehrt die Werke in diese Kriterien hineingepresst werden müssen, ist fraglich. Ich persönlich sehe die Notwendigkeit nur in den tieferen Graden, wo es darum geht, was Kinder und Jugendliche, die bisher zwei, drei oder 5 Jahre lang ihr Instrument gelernt haben können (oder noch nicht). Wie so oft ist alles relativ.
Die amerikanische “Grading Chart” stelle ich Euch am Ende des Beitrags als Download zur Verfügung.
Dies ist der fünfte Beitrag zum Thema “Schwierigkeitsgrade von Blasorchesterwerken”. Bisher erschienen sind:
Schwierigkeitsgrade von Blasorchesterwerken
Die Fragestellung
Orientierung für Dirigenten
Kriterien aus Komponistensicht
Kriterien aus Verlegersicht
Ich habe insgesamt 13 Dirigenten, Komponisten und Verleger zu dieser Thematik befragt. Allen diesen Herren (Damen sind leider schon wieder nicht dabei, da die Herren in unserer Szene eindeutig in der Überzahl sind) habe ich noch folgende Frage gestellt:
“Was soll der Schwierigkeitsgrad eines Werkes Deiner Meinung nach aussagen und in wie fern hältst Du die Angabe für notwendig?”
Im Folgenden die Antworten.
Thomas Asanger, Komponist & Dirigent
Mario Bürki, Komponist & Dirigent
Jacob de Haan, Komponist
Markus Friess, Dirigent
“Schwierigkeitsgradempfehlungen erleichtern mir die Notensuche wenn ich z.B. etwas für mein „Donnerstagsorchester“ (Grad 3) suche, weil mir die Vorsortierung durch den jeweiligen Schwierigkeitsgrad Zeitersparnis bringt. Ich muss nicht alle Partituren die mich aufgrund der Thematik interessieren analysieren, sondern nur diejenigen, auf die mein gewünschter Schwierigkeitsgrad zutrifft. (Grad 3, Stufe D, Klasse 3, Mittelstufe)
Habe ich nun Stücke gefunden die meiner gewünschten Thematik (z. B. Kirchenkonzert mit Blasorchester und Chor) entsprechen, wähle ich die Werke aus, die für den Leistungsstand meines Orchesters in Frage kommen, und deshalb von den Verlagen in Schwierigkeitsgrade vorsortiert sind.
Nun ist Schwierigkeitsgrad 3 nicht gleich Schwierigkeitsgrad 3, denn oft haben die Werke unterschiedliche „Streuungen“ innerhalb der Schwierigkeitsgrade. In meinen Partitur-Analysen habe ich mir angewöhnt ein Stück immer auf 5 unterschiedlichen „Subgrades“ zu untersuchen, so wie es wahrscheinlich viele Dirigenten machen.
Subgrade „Tonumfang“
Subgrade „Rhythmus“
Subgrade „Technischer Anspruch“ (auch von den Tempi abhängig)
Subgrade „Intonation“ (z. B. kranke Töne, Terzen im Sopran, Quinten im Bass, …)
Subgrade „Harmonie“ (2. B. übermäßige Akkorde, Vorhalte, Nonenakkorde, …)
Das Stück „The Texans“ von James Barnes, das ich im Moment für ein Konzert vorbereite, bekommt bei mir dann folgende Schwierigkeitsgrad-Einstufung:
The Texans, James BarnesHabe ich z.B. ein Orchester das in der Kategorie 3 (Grad 3, Stufe C, Klasse 3, Mittelstufe) musiziert und in der Rhythmik seine Stärken hat, jedoch in der Intonation seine Schwächen hat, so muss ich innerhalb der Kategorie 3 eine eigene Auswahl treffen mit der ich mein Orchester im richtigen Maße weiterentwickeln kann. Über- oder Unterforderung macht sich sofort in einem Mangel an Motivation und Spielfreude bemerkbar.
In diesem obigen Fall würde ich nach einer Partitur suchen die in der Rhythmik ihre Ansprüche hat und in der Harmonik nur ein paar wenige schwierige Akkorde enthielte. So könnte ich meinem Orchester durch die Rhythmik Musizierspaß vermitteln und durch die überschaubaren anspruchsvollen Akkorde in der Stimmführung und Intonation einen Schritt weiterbringen, ohne es dabei zu überfordern.
Ich denke, jeder Dirigent der seine Arbeit halbwegs pflichtbewusst erfüllt, wird das genauso machen wie ich. Deshalb glaube ich, dass auch jeder dieser Dirigenten über die Zeitersparnis glücklich wäre die er hätte, wenn die Verlage oder Literaturkommissionen diese Subgrades anbieten würden.
Allerdings würde ich sie auf jeden Fall „nachkontrollieren“, denn ich glaube dass der „Grade“ der Verlage vom Kommerz nicht verschont ist. Deshalb erstelle ich mir auch weiterhin meine eigenen Subgrades, denn nur diesen vertraue ich.”
Ben Haemhouts, Verleger & Dirigent
“In erste Linie soll es für die Kunden klar sein, dass das Werk geeignet ist zum Spielen für dies oder jenes Orchester. Neben Schwierigkeit sind Dauer und genaue Instrumentierung wichtig.
Grundsätzlich denke ich aber, dass die Demo-CD und das Scoreplay heutzutage auch sehr wichtige Instrumente sind. Ich finde es sehr wichtig diese Angaben zur Verfügung zu stellen.
Wir (bei Hal Leonard) bekommen äusserst selten Reklamationen, dass Orchester ein bestimmtes Werk nicht spielen können weil die Informationen nicht ausgereicht haben.”
Hubert Hoche, Komponist, Dirigent & Verleger
“Aus meiner Komponisten-Sicht halte ich Schwierigkeitsgrade für Segen und Fluch. Auf der einen Seite engt es künstlerisch unheimlich ein, auf der anderen Seite wird man diszipliniert. Für Komponisten, die auch für Blasorchester komponieren halte ich es für absolut wichtig, denn die Musiker, für die man komponiert, sind bis zur Oberstufe fast ausschließlich Amateurmusiker, die ihrem Hobby nachgehen. Ebenso die Dirigenten. Als eine Hilfestellung, gerade für diese Klientel, halte ich Schwierigkeitsgrade für wichtig und sinnvoll.
Im Moment gibt es ja nur eine Zahl oder ein Wort, dass den Schwierigkeitsgrad eines Werkes festlegt. Alle Parameter einer Komposition auf eine Zahl zu reduzieren, das halte ich persönlich für viel zu einseitig.
Als Komponist wünschte ich mir da mehr Unterstützung durch die internationalen Verbände und Verlage, die einen Katalog mit Parametern für die Festlegung von Schwierigkeitsgraden zusammenstellen sollten. Im Moment wird die Festlegung von Schwierigkeitsgraden sehr individuell gehandhabt und entzieht sich für mich dadurch einer wirklichen Verlässlichkeit der Angaben.
Auf der anderen Seite sind aber die Blasorchester auch so individuell unterschiedlich, dass der Blick in die Partitur das entscheidende Kriterium ist.
Für mich bleiben Schwierigkeitsgrade auch nach dieser Auseinandersetzung mit dem Thema, Fluch oder Segen!
Aber als Kreativer doch mehr Fluch als Segen!”
Alexander Knam, Verleger
“Der Schwierigkeitsgrad spiegelt ein wenig das Niveau des Stückes wieder – aber ein Grad 3 Orchester, kann trotzdem mit einem Grad 3 Stück größere Schwierigkeiten haben als mit einem Grad 4 Stück weil
– die Musiker mit dem „schwereren Stück“ einfach mehr anfangen können und es ihrem „Spirit“ näher kommt als die Komposition in Grad 3
– genauso kann ein Grad 4 Verein an einem langsamen ruhigen Grad 2 Stück scheitern, wenn die Art der Musik den Musikern oder dem Dirigenten einfach nicht geläufig ist und sie z.B. nicht „ruhig“ spielen können.
– die Besetzung und die technischen Schwierigkeiten gerade bei diesem speziellen Stück eher auf die aktuelle Besetzung und Leistungsträger im Verein abgestimmt sind.
Der Faktor Zeit spiel ebenfalls eine große Rolle. Ich bin durchaus in der Lage bei entsprechender Grundbesetzung ein Grad 5 Werk mit einem Grad 3 Orchester zu spielen. Ich brauche halt in der Regel länger als wenn ich das mit einem Grad 5 Orchester einstudiere. Aber über den Faktor Zeit und wenn es das „eine“ Hauptwerk im Konzert ist und jedem bewusst ist, dass dieses Stück für diesen Zweck auf dem Konzertprogramm steht – dann kann ich auch eine größere Leistungsbereitschaft aus dem Orchester kitzeln. Die Aufgabe des Dirigenten muss aber sein, das korrekte Maß zwischen „fordern statt verwöhnen“ und „überfordern“ zu finden.”
Thiemo Kraas, Komponist & Dirigent
“Der Schwierigkeitsgrad kann eine sehr kostbare Hilfestellung für die Auswahl eines Stücks sein. Aus meiner Sicht kann diese Einstufung jedoch nur bedingt ein aussagekräftiges Abbild des ganzen Stücks geben. Ich bin der Meinung, dass es neben dem oben erwähnten rein „technischen“ Schwierigkeitgrad auch einen „musikalischen“ Schwierigkeitsgrad gibt, den es zu berücksichtigen gilt. Ich empfinde ganz häufig die Interpretation eines Stücks als sehr anspruchsvoll und fordernd, auch wenn der reine Notentext das im ersten Moment vielleicht nicht vermuten läßt oder mir gar das Gegenteil vermittelt weil er keine großen technischen Herausforderungen aufweist. Je länger und intensiver ich mich mit der Musik beschäftige, desto mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass es so viele wunderbare Kompositionen gibt, die trotz oder gerade aufgrund ihrer Schlichtheit im Notenbild so anspruchsvoll zu interpretieren sind. Dieser „musikalische“ Schwierigkeitsgrad ist natürlich nur sehr schwer in einer Einstufung oder Zahl auszudrücken und erfordert eine intensive Auseinandersetzung des Dirigenten mit dem jeweiligen Stück. Mir persönlich ist es sehr wichtig, diese „musikalische“ Komponente nie außer Acht zu lassen.”
Jakob Scherzinger, Dirigent
“In fast allen Fällen bezieht sich der Schwierigkeitsgrad eines Stückes auf dessen technische Ausführung; musikalische Aspekte oder besetzungstechnische Besonderheiten bleiben dabei oft unberücksichtigt. Beispielsweise ist die Hymne aus Gustav Holsts Jupiter im Arrangement von Johann de Meij vielerorts im Schwierigkeitsgrad 2 eingestuft. Dieses Stück würde man allerdings kaum mit einem Unterstufenorchester spielen, da es musikalisch und besetzungstechnisch weitaus anspruchsvoller ist. Die Angaben von Schwierigkeitsgraden kann also durchaus verwirrend sein. Ich halte es deshalb für wenig sinnvoll, ein Stück auf seine rein technische Ausführung zu reduzieren und aufgrund dessen ein Werk mit einem Schwierigkeitsgrad abzustempeln. Musikalische Parameter lassen sich einfach nicht objektivieren und sind immer auch subjektiver Natur.
Eine grobe Einschätzung in leicht, mittel und schwer würden meines Erachtens ausreichen, um sich einen Überblick über die Schwierigkeit eines Werks zu verschaffen. Auch hier ergäbe sich dann allerdings die Diskussion darüber, ab wann ein Werk mittel, schwer oder leicht ist…“
Christian Steinlein, Dirigent
“Natürlich weckt die Angabe des Schwierigkeitsgrades bei einem Werk bestimmte Erwartungen in mir bezüglich benötigter Besetzung, Tonumfänge der einzelnen Instrumente, technische, musikalische und emotionale Anforderungen, Formen und Strukturen, rhythmische Komplexität, etc. und natürlich vor allem das Verhältnis all dieser Faktoren untereinander. Definitive und konkrete Aussagen darüber sind meiner Meinung nach aber definitiv nicht möglich. Diese Angaben können also ausschließlich der Orientierung dienen. Man sollte sie niemals zu allgemein gültigem Gesetz erheben und sie nicht in ihrer Bedeutung überhöhen. Wenn ich unbekannte Literatur sichten will, dann können sie aber dennoch sinnvoll sein, weil sie mir u.U. beim “Aussieben” helfen. Suche ich z.B. Literatur für einen kleinen Musikverein, werde ich versuchen, in den mittleren Leistungsstufen fündig zu werden. Brauche ich aber ein Hauptwerk für das Programm eines Auswahlorchesters, werde ich vornehmlich in den Listen gehobenerer Literatur nachschauen.
Am Ende darf der Schwierigkeitsgrad aber auf gar keinen Fall zum alleinigen Ausschluss- oder Auswahlkriterium der Literatur werden. Nachdem und auch schon bevor ich die Spielbarkeit eines Werkes für mein Orchester geprüft habe, spielen ja schließlich jede Menge andere Faktoren eine wichtige, ja eigentlich sogar die wichtigere Rolle bei der Literaturauswahl. Gute Musik ist eben gute Musik, egal wie schwer sie ist. Aber das ist ein ganz anderes Thema.”
Koen Vergouwen, Verleger
“Ich denke, dass es gut ist, einen Schwierigkeitsgrad anzugeben, mit dem der Dirigent in einem Katalog oder auf der Website Werke seine Suche schnell eingrenzen kann. Wenn sie/er zielgerichtet nach Kompositionen oder Arrangements suchen möchte, dann sind die Schwierigkeitsgrade eine prima Richtlinie als Grundlage.
Natürlich ändert sich die Bewertung der Musik mit der Zeit und so stoßen wir bei Tierolff auch oft auf Kompositionen, die 55 Jahre zuvor einen Schwierigkeitsgrad erhalten haben, der so heute nicht mehr gilt. Auch verwenden die verschiedenen Musikverlage oft unterschiedliche Systeme. Deshalb kann ein Werk theoretisch bei verschiedenen Verlagen unterschiedlich beurteilt werden.
Das gibt auch an, dass der Schwierigkeitsgrad immer indikativ ist. Ich erkläre das an einem Beispiel: Das Arrangement von La Fille aux Cheveux de Lin ist gemäß Notenbild sehr einfach, aber vor allem weil es zart und offen ist stellt es für 40 oder 50 MusikerInnen eine große Leistung dar, es zusammen aufzuführen. Die Frage ist dann: wie beurteilst du dieses Werk? Auf Basis des Notenbilds? Oder auf Basis “Zusammenspiels in der Musik”? Wir wählen meistens die zweite Version. Darum ist unsere Version für Saxophon- oder Klarinettenquartett beispielsweise im Schwierigkeitsgrad tiefer als in der Blasorchesterfassung.
Kurz und gut: die Schwierigkeitsgrad-Angabe ist indikativ und gibt im Prinzip ein reales Bild, ist aber nicht auf zwei Ziffern hinter dem Komma präzise.”
Walter Weinzierl, Verleger & Dirigent
“Nur zur ersten Orientierungshilfe, um den dichten Dschungel der Massenliteratur vorweg etwas zu lichten. Aussagekräftig ist der Schwierigkeitsgrad in Form einer Zahl nur sehr bedingt.
Zudem werden von Verlagen auch oft aus verkaufstechnischen Gründen Schwierigkeitsangaben geschönt (4+ anstatt 5), da viele Orchester glauben, 4 noch spielen zu können, aber 5 nicht mehr…
Als Zusatzparameter bei der Katalogisierung aber immerhin nützlich.”
Diese Aussagen sind grundsätzlich richtig und sollten auch weiterhin verfolgt werden. Aber die Blasmusikszenze muss auch dahin kommen dass das Publikum, die Wertungsrichter und die MusikerInnen dem DirigentenIn klar machen dass dieses Werk zu schwer ist. Welcher WR vergibt denn bei Wertungsspielen – kein Wettbewerb – eine 8 oder 7 bei der Stückauswahl im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit des Orchester und Dirigenten!!?? Denn für mich sind Wertungsspiele auch Wettbewerbe, das war schon seit 1960 so – die Kapelle wollte um einen Punkt besser sein als die Nachbarkapelle. Oder sagt das Publikum und die Musiker dem Dirigenten “zu schwer”?
Die Gestraften sind die Musiker. Wenn dieser Zustand aber eintrifft dann muss der Verein handeln – denn sonst machen wir uns – wie letzten Jahre – was vor. Beschönigen das Ganze usw.- kennen wir ja alles. Wir sind es unseren hervorragend ausgebildeten Jugendlichen schuldig, hier neue Akzente und Richtlinien zu setzen. Nur so können wir die Politik und unser Publikum – von denen ein Großteil noch immer meint Blasmusik ist dicke Backenmusik und oans, zwoa, gsuffa – überzeugen.
Hallo lieber Klaus, ich bin Deiner Meinung. Ich habe selbst schon oft bei Wertungsspielen und (internationalen) Wettbewerben gesehen/gehört, dass die Stufe falsch gewählt war – das Werk/die Werke gerade mal so beherrscht wurde(n), aber hörbar zu schwierig für das Orchester waren. Und diese Tatsache geht wirklich auf die Dirigentin/den Dirigenten zurück, der das Orchester falsch einschätzt und die falsche Literatur auswählt. Wenn diese Orchester an internationale Juries mit einer ehrlichen, realen Einschätzung (ohne Motivations-Bonus-Punkte) im internationalen Vergleich geraten, sind Enttäuschungen vorprogrammiert.
Die beste Empfehlung ist, eine Stufe tiefer antreten, viel Wert auf Intonation, Klangausgleich und Zusammenspiel legen. Damit hoch punkten, besser abschneiden und somit den Motivationskick für das Orchester anschieben. Diese drei Parameter können jedoch erst geprobt werden, wenn das Werk “beherrscht” wird…. Ich werde mal nachdenken, wie wir dieses Thema im Blasmusikblog.com thematisieren und diskutieren können. Viele Grüße, Alexandra
Hallo Alexandra,
frage 10 Musiker und du bekommst 15 Antworten 😉
Wie auch immer – Deiner kurzen Einleitung stimme ich komplett zu. Prima!
Viele Grüße,
Christoph
Das zeigt die Vielschichtigkeit des Themas…