Was Dirigent:innen an ihrem Musikverein manchmal nervt – und was wir daraus lernen können
Ein Blick hinter das Pult – eine ehrliche, aber hoffnungsvolle Bestandsaufnahme
„Ich musste so lachen… weil du mal wieder genau den richtigen Nerv triffst!“ – So beginnt eine der zahlreichen Rückmeldungen auf meine Umfrage „Was nervt euch Dirigent:innen an eurem Musikverein?“, die ich vor einiger Zeit schon in FB durchgeführt habe. Dass ich damit ins Schwarze getroffen habe, zeigen die zahlreichen offenen, teils sehr persönlichen Antworten.
Und doch steckt hinter all den Ärgernissen auch etwas anderes: eine enorme Leidenschaft. Diese Dirigent:innen brennen für ihre Orchester. Sie wollen weiterkommen, mit Qualität, mit Freude, mit Gemeinschaft. Und gerade deshalb stören sie sich an manchen Dingen, die den Weg dorthin erschweren.
In diesem Beitrag fasse ich die wichtigsten der von den Dirigentinnen und Dirigenten genannten Themen zusammen – mit einem klaren Ziel: Verständnis fördern und Veränderungen ermöglichen.
1. Unzuverlässigkeit und Unverbindlichkeit – ein Dauerbrenner
Fast alle Antworten nennen es ganz oben:
Fehlende Rückmeldungen. Kurzfristige Absagen. Musiker:innen, die sich gar nicht erst abmelden oder – schlimmer noch – fest zugesagt haben und dann nicht erscheinen. Besonders problematisch: Wenn Auftritte bevorstehen oder die Konzertliteratur anspruchsvoll ist.
„Ich weiß am Tag vor dem Konzert noch nicht, ob ich voll besetzt bin oder improvisieren muss.“
Natürlich wissen alle, dass Musik ein Hobby ist. Dass Job, Familie und Gesundheit vorgehen – keine Frage. Aber:
Wenn Musik nur noch passiert, „wenn sonst nichts ist“, wird es schwierig.
Denn Musik lebt von Verbindlichkeit, auch wenn sie in der Freizeit stattfindet. Nicht im Sinne von Druck, sondern als Zeichen von Wertschätzung: für den Verein, für den Dirigenten, für die Kolleg:innen im Orchester. Orchester geht nur gemeinsam. Wer selbstbestimmt seine Freizeit gestalten möchte geht besser auf den Golfplatz.
2. Probendisziplin und Vorbereitung – das unsichtbare Fundament
Dirigent:innen investieren enorm viel Zeit in Probenvorbereitung. Werke müssen passend ausgewählt, die Partituren eingerichtet und gelernt, die Probe muss vorbereitet werden. Und dann das:
„Manche Musiker sitzen in der Probe und erwarten, dass ich ihnen alles erkläre – vom Zählen der Takte bis zum richtigen Griff.“
„Ich hab ein schönes, anspruchsvolles Stück vorbereitet – aber kaum jemand hat reingeschaut. Dann wird gejammert, dass es zu schwer ist.“
Es geht nicht darum, dass alle perfekt vorbereitet zur Probe kommen. Aber: Ein bisschen Eigenverantwortung hilft ungemein. Nicht nur dem Dirigenten/der Dirigentin – sondern dem ganzen Orchester. Orchester geht eben nur gemeinsam.
3. Kritik, Meckerei und Motz-Kultur – wenn das Gemeinsame leidet
Ein tolles Konzert, 85 Musiker:innen auf der Bühne, begeistertes Publikum – und doch dreht sich danach alles um die wenigen Stellen, die nicht funktioniert haben, der Einsatz, der nicht gepasst hat, die unpassenden Schuhe des kleinen Lukas oder den Sekt, der zu knapp eingekauft wurde.
„Kann man dieses viele Schöne denn nicht einmal einfach genießen…?“
Einzelne Stimmen können viel bewegen – im Positiven wie im Negativen. Wenn einzelne ständig nörgeln, sich über Repertoire beschweren, an den Entscheidungen des Vorstands rummäkeln oder grundsätzlich alles in Frage stellen, kann das ganze Ensembleklima leiden.
Aber: Hinter der Kritik steckt oft der Wunsch nach Beteiligung. Wer motzt, will gehört werden. Die Kunst ist, diese Stimmen in konstruktive Bahnen zu lenken.
4. Organisation, Struktur und Kommunikation – Vereinsleben braucht Rahmen
Viele Dirigent:innen beklagen auch strukturelle Schwächen im Verein: Langsame Reaktion des Vorstands, chaotische Organisation, fehlende Klarheit bei Terminen oder Absprachen.
„Wenn ich ein Programmheft zur Korrektur schicke und der Vorstand meldet sich erst nach dem Druck – dann ist das frustrierend.“
Auch das Thema Vertrauen kommt zur Sprache: Wenn Entscheidungen des Dirigenten (z. B. ein neues Werk) direkt in Frage gestellt werden oder das Engagement einzelner Vereinsverantwortlichen wenig geschätzt wird. Hier zeigt sich:
Vereinsorganisation ist ein Geben und Nehmen. Sie braucht klare Prozesse, eine breit aufgestellte Aufgabenverteilung, Teamarbeit, gute Kommunikation – und gegenseitiges Vertrauen. Orchester geht auch in der Organisation nur gemeinsam.
5. Fehlende Anerkennung – und die stille Kraft des Dankes
Ein besonders berührender Punkt: Viele Dirigent:innen wünschen sich mehr Wertschätzung – nicht nur für sich selbst, sondern auch für engagierte Musiker:innen.
„Ein junges Vereinsmitglied gestaltet ein Plakat. Wochenlang. Dann heißt es in der Vorstandssitzung: ‚Kindisch‘. Das tut weh.“
„Ich wünsche mir, dass man merkt, wenn jemand übt. Dass man sich freut, wenn der Ton schöner geworden ist.“
Wertschätzung ist kein „Nice-to-have“. Es ist der Kitt, der die Gemeinschaft „Orchester“ zusammenhält.
6. Repertoire und Motivation – zwischen Anspruch und Realität
Einige Dirigent:innen sprechen auch den Spagat zwischen musikalischen Zielen und tatsächlicher Spielpraxis an. Die Realität: Manche Musiker:innen haben keine Lust auf moderne Werke. Andere wollen keine Märsche spielen.
„Ich mag keine traditionelle Blasmusik, also komme ich nicht zu den Proben – und kann auf dem Schützenfest keine Polka spielen.“
„Musiker:innen wünschen sich anspruchsvolle Werke – üben sie aber nicht. Dann wird’s schwierig.“
“Ein Musiker sagte mal zu mir: ‘Ich brauche nicht in die Probe kommen, ich kann ja meine Stimme’…”
Auch das gehört zur Wahrheit: Ein Orchester ist ein Kompromiss. Der Anspruch muss zur Besetzung passen. Und der Spaßfaktor zur Zielsetzung. Hier helfen Offenheit und ein gemeinsames Verständnis davon, wohin die Reise gehen soll. Eine kluge musikalische Jahresstruktur, in der sich jeder irgendwann so wiederfindet, dass auch die „ungeliebten“ Dinge selbstverständlich mitgetragen werden.
Handlungsempfehlungen für Vereinsverantwortliche
Basierend auf den Erfahrungen aus der Umfrage:
1. Verbindlichkeit fördern
- Einführung klarer Kommunikationsregeln bei Proben- und Auftrittszusagen (Konzertmeister!)
- Regelmäßiger Austausch über Probenbesuch (z. B. Jour Fixe von Dirigent:in mit Registerleiter:innen)
- Bewusst machen, dass regelmäßige Teilnahme ein Zeichen der Wertschätzung ist
2. Eigenverantwortung stärken
- Probeziele transparent machen („Nächste Woche proben wir X – bitte vorher reinschauen“)
- Eigenes Üben fördern, z. B. mit Play-Along-Tools, Übemappen oder Challenges
- Neumitglieder früh über Erwartungen und Probenkultur informieren
3. Anerkennungskultur leben
- Musikalische Fortschritte sichtbar machen und loben
- Engagement im Verein öffentlich anerkennen (z. B. „Danke der Woche“)
- Konstruktives Feedback vorleben – Kritik ja, aber bitte mit Herz
4. Vereinsorganisation sichtbar machen
- Terminplanung rechtzeitig und vollständig kommunizieren
- Klare Rollenverteilung im Vorstand – wer ist wofür ansprechbar?
- Entscheidungen erklären – und auch mal „Danke fürs Vertrauen“ sagen
5. Musikalische Identität gemeinsam entwickeln
- Gemeinsame Visionen entwickeln: Was wollen wir musikalisch erreichen?
- Repertoire nicht allein entscheiden – aber verantwortlich kuratieren (Musikkommission)
- Balance zwischen Unterhaltung, Tradition und künstlerischem Anspruch finden
Fazit: Herausforderungen als Chance verstehen
Ja – manches nervt. Ja – manches muss sich ändern.
Aber diese Umfrage zeigt auch: Die Energie ist da. Die Liebe zur (Blas-)Musik. Die Lust auf Gemeinschaft.
Dirigent:innen sind keine Einzelkämpfer. Sie brauchen Verbündete im Verein, im Vorstand, im Orchester.
Wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen – mit Klarheit, Kommunikation und gegenseitiger Wertschätzung – dann kann aus „Was nervt…?“ ganz schnell ein „Was uns gemeinsam stark macht!“ werden. Orchester geht nur gemeinsam.
Was sind die Dinge, die euch als Dirigent:in im Vereinsalltag manchmal den letzten Nerv rauben? Oder habt ihr einen Weg gefunden, damit entspannt umzugehen? Teilt eure Gedanken und Erfahrungen gern unten in den Kommentaren!
Hallo Alexandra, ganz großartiger Artikel mit allen Punkten, die wirklich nerven! Und ganz wichtig! Du hast auch gute Vorschläge um die Probleme zu lösen, oder wenigstens in Angriff zu nehmen! Mögen viele Vereine diesen Artikel in die nächste Vorstandssitzung bringen!
Herzliche Grüße
Helmut
Danke lieber Helmut und viele Grüße, Alexandra