Spartenreichtum Blasorchester – Fluch oder Segen? Teil 1
Für die Ausgabe 2/2019 der Fachzeitschrift Eurowinds habe ich in der Serie „Schrittmacher der Blasmusik“ ein Interview mit dem Dirigenten und Komponisten Dominik Wagner über das Thema „Spartenreichtum Blasorchester – Fluch oder Segen?“ geführt. Dieses Thema fand ich so spannend, dass ich es auch hier auf dem Blasmusikblog.com aufgreifen und vertiefen möchte. Ich habe verschiedene Dirigentinnen und Dirigenten gefragt, ob sie sich zu diesem Thema äußern möchten.
Im diesem ersten Teil haben Michael Kummer, Martin Baumgartner und Isabelle Gschwend ihre Gedanken zum Thema aufgeschrieben.
Michael Kummer
Michael Kummer ist Dirigent des Blasorchesters Grünwald, der Stadtkapelle Wasserburg und des Akademischen Blasorchesters München. Er ist künstlerischer Leiter und Dirigent bei den jährlich stattfindenden Sommerkursen „Windrichtung“ in Marktoberdorf. Nachfolgend seine Gedanken zum Thema:
„Zunächst darf erst einmal festgestellt werden, dass sich für die meisten Musikvereine eine solche Alternative überhaupt nicht ergibt: im Gegensatz zu Auswahlorchestern müssen die meisten Vereine sich ihr „Geld“ selber einspielen, von Sponsoren- und öffentlichen Fördergeldern einmal abgesehen. Und so bleibt im Musikvereinsalltag nolens volens das stetige Nebeneinander von „kulturellem Auftrag“ und „Dienstleistungsbetrieb“.
Die grosse Herausforderung für den Vorstand im Verein mit dem musikalischen Leiter ist die „Versöhnung“ dieser oft gegenläufigen Tendenzen und Aufgaben. Oft genug spalten diese Aufgaben auch den Verein, denn kompatibel sind sie weder von der Besetzung noch von der gespielten Musik. Es macht wenig Sinn, zur Eröffnung eines Bäckerladens oder als Bierzeltmusik beim Frühlingsfest mit 70 Mann/Frau, also dem gesamten aktiven Trupp zu erscheinen und dann Ausschnitte aus einem anspruchsvollen Konzertprogramm zum Besten geben zu wollen. Jeder Anlass verlangt nach seinem passenden Repertoire und damit entsprechender Besetzung.
Organisatorische Notwendigkeiten
Das Erstellen eines Jahres- oder Halbjahresplanes für die anstehenden Auftritte, Konzerte und den zugehörigen Proben ist hier der Schlüssel zum Erfolg. Sinnvollerweise hängt man das Ganze an den früh zu fixierenden Jahreskonzerten auf – die Säle müssen meistens mindesten ein Jahr vorher reserviert werden. Weiterhin muss für diesen Bereich ein ausreichender Probenzeitraum reserviert und festgelegt werden – vorausgesetzt, der Konzertbetrieb steht für den Verein zentral im Vordergrund. Erst dann sollte nach meiner Meinung die Kapazität des Vereines für die Dienstleistungen ausgeweitet werden, wobei man sicher auf eine gute Balance von „zu wenig“ und „zu viel“ achten muss, will man nicht sehr schnell auf den Bauch fallen.
In den von mir betreuten Vereinen habe ich stets nach geraumer Zeit (erfolgreich) versucht, einen 2. Dirigenten für die kompetente Betreuung dieser Dienstleistungen (auch Auftritte genannt) zu installieren. Hier ist Menschenkenntnis und ein gutes Stück Glück verlangt, dass die betreffenden Personen gut harmonieren und zusammenarbeiten.
Organisation der Probenarbeit
Voraussetzung für ein erfolgreiches Spiel, das den Beteiligten wirklich Spass macht, ist eine zielgerichtete und gründliche Probenarbeit. Für den Konzertbetrieb ist das offensichtlich. Für die Auftritte wird oft nach mehr Probenzeit gerufen. Allerdings stellt sich oft genug heraus, dass bei speziell für die Pflege des „Repertoires“ angesetzten Proben diese von genau den Personen „geschwänzt“ werden, die sie am meisten nötig hätten und vorher am lautesten danach gerufen haben. Ausserdem ist es fast unmöglich, ein umfangreiches Repertoire für Marschmusik, Auftritte und Bierzeltmusik laufend auf einem Einstudierungshöchststand zu halten – dafür sind es einfach zu viele Stücke und zu wenig Zeit. Weiterhin sind ja Teile des Orchesters wie Oboen, Fagotte, Bassklarinette und oft genug auch Hörner und Saxophone gar nicht oder arg beschränkt bei den hierfür notwendigen Besetzungen im Einsatz. Ja sogar passende Noten für diese Instrumente sind nicht vorhanden und so sitzen die betreffenden Personen ohne Aufgabe herum.
Nach meiner Erfahrung ist es in einem grossen und leistungsfähigen Verein am besten, wenn man in der Zeit nach den Jahreskonzerten neben der Einstudierung des neuen Programmes immer wieder Repertoirestücke in die Proben (z. B. am Ende) einstreut. Zwei Faktoren bestimmen die Verbesserung der jeweiligen Besetzung: a) die allgemeine Spielfähigkeit der Musiker/innen, welche durch möglichst viele gut besetzte Proben für jedes zu probende Stück verbessert wird und b) das „Zusammenspielen“ der Auftrittsbesetzungen. Je öfter diese zum Einsatz kommen und je konstanter sie besetzt sind, desto besser wird auch der musikalische „Output“. Gelingt es eine gut besetzte Probenarbeit zu erreichen, werden sich die aufgezeigten Probleme in der Regel gut bewältigen lassen.
Weitere „Sparten“
Einen Bereich will ich hier noch kurz ansprechen, der zu dem bislang beschriebenen Betrieb noch hinzukommt und je nach Ehrgeiz gar nicht so leicht mit unterzubringen ist: die Marschmusik. Ausser der musikalischen Perfektion ist hierfür noch eine ganz andere Fähigkeit des Vereines zu schulen – das Bewegen zur Musik in geordneter Formation. Richtig gemacht braucht das durchaus seine Zeit und eine sehr spezialisierte Probenarbeit, die mit den beschriebenen Vorgehensweisen nicht zu erreichen ist. Setzt der Verein seinen Ehrgeiz auf spezielle Marschierfähigkeiten wie Figuren- oder Formationsroutinen, so wird man um zahlreiche Sonderproben nicht herum kommen – im Idealfall ZUSÄTZLICH zum restlichen Probenbetrieb. Mitwirkung (und damit intensive Vorbereitung) bei grossen Musikfesten und Festzügen im In- und Ausland können hier ein guter Anlass für die Installation solcher Zusatzproben sein. Der oft beschworene Satz vom Wirkungsgrad des Vereines in der Öffentlichkeit bei Umzügen mit tausenden Zuschauern kann hier durchaus betont werden.
Auch Kirchenkonzerte wollen speziell vorbereitet werden – sie sind von Ausrichtung und Repertoire noch einmal ein Spezialfall und wird auch ernst zu nehmen sein: im Prinzip ist es ein weiteres Konzert mit anspruchsvoller Musik und einem anders strukturierten Publikum von Personen, die bei anderen Präsentationen des Vereines vielleicht nicht kommen würden.
Fluch oder Segen?
Nachdem man, wie ich eingangs geschrieben habe, ohnehin kaum eine Veränderungsmöglichkeit hat, sehe ich als positiv denkender Mensch das Ganze, vernünftig behandelt, als einen Segen. Viele unserer Musiker/innen spielen gerne oft und nicht nur wie in einem Liebhaber- oder Auswahlorchester in 1 – 2 Konzerten im Jahr. Die Stilistik für die vielfältigen Aufgaben ist reichhaltig und unterschiedlich – Langeweile kommt da bestimmt nicht auf. Schlechte Auftritte gibt es nach meiner Meinung nicht – nur schlecht besetzte oder gespielte. Mithin ist es auch ein Trugschluss, dass die sog. „Unterhaltungsmusik“ weniger Anspruch an die Ausführenden stellt. Passt aber alles, macht es auch Spass, wenn es nicht zu viele werden. Hat man das alles sorgsam im Auge und über die Jahre eine schlagkräftige Truppe mit einem erfahrenden und gut kooperierendem Führungsteam aufgebaut, kann der Segen dann schon vielfältig sein und einem als verantwortlichem Leiter über Jahrzehnte viel Freude und Erfüllung geben. Da diese Entwicklungen in der Regel viel Zeit brauchen, möchte ich abschliessend noch eine Lanze für eine konstante langjährige Tätigkeit beim jeweiligen Verein brechen. Karrierespringer bringen solchen Entwicklungen gar nichts und sind äusserst kontraproduktiv.“
Michael Kummer
Martin Baumgartner
Martin Baumgartner hat sich zum Thema über die Pros und Contras „Spartenreichtum in der Blasmusik“ Gedanken gemacht. Der studierte Tubist dirigiert zur Zeit die Stadtmusik Breisach, ist Jugendleiter im Blasmusikverband Kaiserstuhl-Tuniberg, war lange Zeit Stadtmusikdirektor in Endingen und unterrichtet an der dortigen Musikschule Blechblasinstrumente.
Pro:
- Ich denke, dass man viel mehr Jugendliche begeistern kann, wenn man verschiedene Stilrichtungen spielt.
- Die Musiker werden geschult, verschiedene Stilistiken zu spielen..
- Eine Sparte befruchtet ja auch die andere. Wer z.B. eine Polka sauber spielen kann, tut sich mit der Interpretation einer klassischen Transkription auch leichter.
- Für den Dirigenten (in der Regel Amateurdirigenten) ist die Probearbeit auch vielseitiger. Für mich wäre es zu langweilig, nur eine Richtung zu dirigieren.
- Das Publikum erwartet in der Regel auch ein abwechslungsreiches Konzert (kein Sinfonieorchester würde z.B. Bruckner und Mahler in einem Konzert spielen)
- Als normaler Musikverein/Stadtkapelle ist man für die verschiedensten Auftritte gewappnet.
- Die verschiedenen Instrumentengruppen werden unterschiedlich gefordert. (z.B. Schlagwerk, Exoten wie Bassklarinette, Fagotte) Was macht man mit diesen, wenn man z. B. nur Moderne Stücke oder volkstümliche Stücke spielt.
Contra:
- Man ist in die eine Richtung, die man spielt natürlich wesentlich besser, da man ausschließlich diese pflegt.
- Zu den Konzerten kommt wirklich nur ein Fachpublikum, das sich in dieser Sparte sehr gut auskennt.
- Man kann gezielter Werbung machen, wenn alles einen Stil hat.
- Manche Musiker kommen vielleicht nur deshalb ins Orchester, weil eben nur diese Musik gemacht wird. (siehe Punkt 1 oben, ist eine Abwägungssache und kommt auf das Umfeld bzw. der Größe der Gemeinde/Stadt an)
Martin Baumgartner
Isabelle Gschwend
Isabelle Gschwend hat ihren Master in Blasorchesterdirektion an der Hochschule der Künste in Bern absolviert und dirigiert zur Zeit die «Blasorchester Musikgesellschaft Neudorf» (1. Klasse) und die «Jugendblasorchester Oberer Sempach» (Oberstufe). Sie lebt und arbeitet in der Schweiz.
Spartenreichtum – Fluch oder Segen
„Die oft strikte Haltung der Hochschulen oder klassischen Musikhäuser, sich vehement für die Erhaltung des Originals, des Urtextes oder der originalgetreuen Aufführungspraxis zu bemühen, ist vielerorts zu spüren. In der Blasmusikwelt sind ausgebaute Blasorchester der höheren Stufen bemüht, ein vorzügliches Repertoire an gehobener Blasmusikliteratur zu spielen. Die musikalische Leitung sucht für die Konzerte vortrefflich komponierte Originalwerke, die bestens zum eigenen Blasorchester passen. Ein Arrangement aus anderen Sparten ist eher selten anzutreffen, ausser es handle sich um Transkriptionen klassischer Werke. Weshalb gelten Werke anderer Sparten als unpassend oder schlechte Musik? Liegt es am Bedürfnis nur gehobene sinfonische Blasorchesterliteratur zu spielen, an den missglückten Interpretationen, den vereinfachten und trivialisierten Arrangements für Blaskapellen tieferer Stufen oder an der Überforderung eine Bigband-Nummer stilgetreu zu spielen? Oder bringt der Spartenreichtum neben Abwechslung im Jahresprogramm die Chance neues Publikum anzusprechen?
Sinfonisch wunderschön, aber …
Unumstritten sind die Sinfonien wie z.B. von Johan de Meji oder David Maslanka der Inbegriff von hervorragender, sinfonischer Originalblasmusik. Diese Werke überzeugen mit den vielfältigen Klangfarben, der sinfonischen Tonsprache und der kunstvollen Komplexität. Gerade für eine gepflegte Klangkultur ist die sinfonische Blasorchesterliteratur von unschätzbarem Wert. Für einen Teil des Publikums wirkt diese Literatur jedoch schwer verständlich. Die Komplexität der Werke verlangt den Zuhörenden viel Konzentration, Verständnis und Offenheit ab. Ungeübte Zuhörer können Konzerte abgehoben oder/und elitär empfinden. Schaut man in die Zuschauerreihen, ist nebst den Freunden und Verwandten der Musizierenden oft nur fachkundiges Publikum zu entdecken. Hat sich die sinfonische Blasorchesterliteratur zur Musik im Elfenbeinturm entwickelt?
Ist «Blasmusik» eine Sparte?
Zuerst ein kurzer Blick in die Entstehungsgeschichte des Blasorchesters. Dieses entwickelte sich während der Französischen Revolution aus dem Gedankengut «Musik für das Volk». Namhafte klassische Komponisten der damaligen Zeit schufen die ersten Originalwerke, zum Beispiel den «Marche Lugubre» (1790) von Gossec oder die «Overture in C» (1792) von Catel. Die Literaturauswahl war bescheiden, daher behalfen sich die Blasorchester mit Potpourri beliebter Opern oder Operetten. Mit der Zeit entstanden weitere Originalwerke wie Wagners «Trauersinfonie» (1844) und Strawinskys «Zirkuspolka» (1942). Es entstanden Kompositionen in vielfältigen Gattungen (z.B. Sinfonie, Polka, Marsch, Ouvertüren etc.) und unterschiedlichen Sparten oder Stilrichtungen (z.B. Klassik, Romantik, Unterhaltung etc.). Die «Blasmusik» bietet eine grosse Bandbreite und lässt sich geschichtlich gesehen schwer als eine Stilrichtung oder Sparte beschreiben. Sie ist sehr unspezifisch und schwer abzugrenzen. Die Interpretation des Begriffs hängt auch stark vom soziokulturellen Hintergrund ab. So reduzieren (leider) immer noch viele Personen Blasmusik auf Bierzelt- oder Marschmusik. Aber Blasmusik enthielt schon immer viele Stilrichtungen, Genres und Gattungen. «Spartenreichtum – Fluch oder Segen» benötigt spezifischer Fragen wie z.B.: «Welche Stile eignen für Blasorchesterarrangements?» «Welche Stile können miteinander kombiniert werden, ohne den Blick fürs kunstvolle Ganze zu verlieren?» «Wie viele Potpourris können an einem Konzertabend gespielt werden?» «Von welchen Sparten und Genre lassen sich andere Stilrichtungen inspirieren z.B. Jazz?» «Welche Vorteile haben spartenübergreifende Konzerte?»
Spartenreichtum bei bekannten Komponisten
Das Phänomen, sich spartenübergreifend zu inspirieren oder zu komponieren, ist alt bekannt und war in der Musikgeschichte schon immer Usus. Mozart instrumentierte im Jahre 1789 Händels «Messias» neu, schrieb Arien in anderen Tonarten, änderte die Tempi und führte sogar weitere Gesangsstimmen hinzu. Heutzutage ist ein solcher Eingriff, wie ihn Mozart gewagt hat, höchst verwerflich. Seinerzeit war dies der Zeitgeist und entsprach der ästhetischen Haltung.
Bachs Präludium Nr. 1 in C wurde in den 60er Jahren vom französischen Jazzpianisten Jacque Loussier improvisatorisch erweitert. Im Gegensatz zur Blasmusik gilt es im Jazz als chic, sich auf andere Künstler oder andere Stilrichtungen zu beziehen. Die genaue Betrachtung der originalen Blasorchesterliteratur zeigt, dass viele Komponisten Elemente aus unterschiedlichen Stilrichtungen und Genres einsetzten. Alfred Reed verwendet Volkslieder oder -tänze – ein bekanntes Beispiel sind seine «Armenian Dances». In «Fanfare and Funk» von Oliver Waespi fliessen Elemente des Funks ein. Da kann nicht von «Fluch» die Rede sein. Hier dienen die Volksmusik oder die populäre Musik als Inspiration für Neues. Die Frage ist somit weniger «Spartenreichtum – Fluch oder Segen», sondern was wird aus dem Spartenreichtum musikalisch und künstlerisch gemacht.
Spartenübergreifende Konzerte als Publikumsmagnet
Spartenübergreifende Konzerte bieten den Vorteil, dass sie dank bekannten Melodien bei einem grösseren Publikum Anklang finden. Damit kann ein breites Publikum angesprochen werden. Insbesondere Konzertbesucher ohne Blasmusikhintergrund bevorzugen eher Crossover-Konzerte (Verknüpfung unterschiedlicher Musikkategorien, z.B. Klassik und Pop). Daher lohnt es sich für ein Blasorchester von Zeit zu Zeit ein populäres Konzert durchzuführen. Dabei zahlt sich ein zeitlich und finanziell hoher Aufwand für die Inszenierung besonders aus. Den professionellen Touch – das Publikum kennt gut inszenierte Produktionen aus dem TV – geben gut geschriebene und geprobte Ansagen, ein passendes Lichtkonzept, die Integration von anderen Vereinen (z.B. Kirchenchor, Tanzgruppen, Solosänger, Kinderchor, Vorleser, Akkordeonorchester usw.), die professionelle Tontechnik, originelle Aufführungsorte etc. In der Zusammenarbeit mit einer professionellen oder semi-professionellen Regie kann ein gelungenes und stilvolles Gesamtkunstwerk entstehen. Ein Crossover-Konzert bietet sowohl für das Publikum als auch für die Mitwirkenden ein unvergessliches Erlebnis.
Nicht nur Crossover-Konzerte, sondern auch Konzerte mit sinfonischer Blasorchesterliteratur können mit diesen beschriebenen Elementen einen neuen Touch erhalten. Schliesslich müssen wir uns immer bewusst sein, dass unser Publikum nicht nur zuhört, sondern auch zuschaut.
Vereinfacht, authentisch oder erweitert
Bei der Literaturwahl stellt sich immer die Frage, ob das Werk vereinfacht, authentisch oder erweitert gespielt werden soll. Vereinfachte Arrangements z.B. von Pop-Rock-Balladen oder -Songs sind weniger zu empfehlen. Sie klingen am Radio schön, an Konzerten wirken sie oft langweilig. Obwohl die Songs sehr bekannt sind, erfordern sie einen grossen Probeaufwand (Ausarbeitung der Phrasierung in der Melodie und dynamisch angepasste Begleitung). Zudem geht die Spannung nach der ersten Strophe oft verloren, da diese Songs vom Text leben und in der Instrumentalversion vieles von ihrer Aussage einbüssen. Auch Bearbeitungen mit einstimmig gesetzten Melodien, langen Akkorden als Begleitung und immer gleichbleibender Basslinie tragen wenig zu einer musikalischen Interpretation bei. Authentisch arrangierte Werke sind gerade in den Genres Swing, Jazz und Latin sehr spannend. Auch hier darf der Probeaufwand nicht unterschätzt werden. Gerade der Leichtigkeit des ternären Rhythmus sollte bei den Proben viel Beachtung geschenkt werden (z.B. entsprechende Einspielliteratur wählen). Auch auf die Schulung des Perkussionsregisters sollte Wert gelegt werden, da der Groove oft ein zentrales Element eines Stils ausmacht. Interessante Beispiele gibt es besonders im Bereich der erweiterten Arrangements. Darunter ist der kreative Umgang mit dem Original gemeint, indem z.B. die Melodie mehrstimmig gesetzt, eine Gegenstimme dazu komponiert, andere Stilelemente eingearbeitet, Fragmente der Ursprungsmelodie übernommen und neue Kombinationen entwickelt. «Brilliant Beatles» von Peter Kleine Schaars ist eine gelungene Mischung aus diversen Melodien kombiniert mit anderen Stilen wie Dixieland, Swing-Marsch, Samba oder Rock Beat. Dank abwechslungsreicher und auf Blasorchester abgestimmte Instrumentation klingt dieses Arrangement sehr spannend. Noch weiter geht die «Queen Symphony» für Blasorchester und Chor von Tolga Kashif. Sie repräsentiert die Verschmelzung von Klassik und populärer Musik auf eine sehr gelungene und kunstvolle Weise.
Sorgfältige Literaturwahl
Entscheidet man sich für ein spartenübergreifendes Werk oder Konzert, so soll die Auswahl ebenso bewusst und sorgfältig erfolgen. Faktoren wie Komplexität, Schwierigkeitsgrad, aktuelle Besetzung, Probeaufwand, Komponist, Arrangeur, Originalität der Verarbeitung, Leistungsbereitschaft und Können der Musikanten sollen berücksichtigt werden. Damit kann dem Original oder dessen musikalischen Inhalt Rechnung getragen werden. Zu beachten ist weiter, dass sich gewisse Stile besser eigenen als andere. Zum Beispiel sollten sich Musikformationen, die sich mit ternärer Rhythmik schwertun, vorzugsweise Funk- statt Swing-Nummern aussuchen. In Punkto Arrangeur soll man sich auf bekannte Grössen verlassen, denn diese besitzen das Flair für einen ausgewogenen Blasorchesterklang.
Die Fragen: «Welche Stile können miteinander kombiniert werden ohne den Blick fürs kunstvolle Ganze zu verlieren» und «Wie viele Potpourris können an einem Konzertabend gespielt werden?» sind von zentraler Bedeutung. Aus Erfahrung sollte ein roter Faden durch das Programm führen. Auf diese Weise können diverse Stile kombiniert werden ohne den künstlerischen Touch zu verlieren. Die Reihenfolge der Stücke soll unter dem Blickwinkel einer packenden Dramaturgie gewählt werden, d.h. bewusster Aufbau eines Spannungsbogens. Fehlt der rote Faden, erinnert das Konzert oft an ein Sammelsurium ohne Konzept. Von einem Konzertprogramm mit reinen Potpourris ist abzuraten. In sich sind diese Werke sehr stimmig und enthalten oft einen spannenden Aufbau. Reiht man sie wahllos aneinander, verlieren sie an Wirkungskraft und ermüden die Konzertbesucher.
Qualitativ hochstehende, spartenübergreifende Blasorchesterprogramme zeichnen sich durch hochwertige Arrangements, seriöse Probearbeit, intensive Auseinandersetzung mit dem Stil, bewusste Wahl von authentischen oder erweiterten Arrangements und eine packende Dramaturgie aus.
Fazit
Zentral ist die Frage, ob Arrangements anderer Sparten wirklich so unpassend sind. Ein Konzert mit rein sinfonischer Blasmusikliteratur zieht mehr fachkundiges Publikum an. Jedoch für Konzertbesucher ohne fachlichen Hintergrund wirkt diese Literatur oft schwer verständlich und elitär.
Geschichtlich gesehen hat sich das Blasorchester schon immer vieler Stilrichtungen und Gattungen bedient. Die Sparte «Blasmusik» ist sehr unspezifisch und lässt sich schwer als Stilrichtung bezeichnen. Spezifischere Fragen wären, welche Stile eignen sich für Blasorchesterarrangements, welche Vorteile haben spartenübergreifende Konzerte, etc.
Es gibt zahlreiche Beispiele von Musikern, die sich von anderen Stilrichtungen oder Komponisten inspirieren liessen oder lassen. Das gilt auch im Blasorchesterbereich. Spartenübergreifende Konzerte sind oft ein grosser Publikumsmagnet. Daher lohnt es sich für ein Blasorchester von Zeit zu Zeit ein populäres Konzert mit eingängigen und bekannten Melodien durchzuführen. Eine professionelle Inszenierung hilft für einen entsprechenden Erfolg. Die Literaturwahl soll sorgfältig und abgestimmt auf die Fähigkeit des Blasorchesters erfolgen. Weiter ist zu empfehlen, dass bewusst authentische oder erweiterte Arrangements gewählt werden sollen. Qualitativ hochstehende, spartenübergreifende Blasorchesterprogramme zeichnen sich durch hochwertige Arrangements, seriöse Probearbeit, intensive Auseinandersetzung mit dem Stil, bewusste Wahl von authentischen oder erweiterten Arrangements und packende Dramaturgie aus.
Letztlich liegt die Stärke des Blasorchesters in der Fähigkeit stilistisch vielfältige oder thematisch unterschiedliche Konzerte zu gestalten, was sowohl dem Publikum, als auch den Musizierenden ein abwechslungsreiches Jahresprogramm bietet. Weshalb soll man darauf verzichten?“
Isabelle Gschwend
Ein herzliches Dankeschön an Michael Kummer, Martin Baumgartner und Isabelle Gschwend für ihre Gedanken zum Thema “Spartenreichtum Blasorchester – Fluch oder Segen?”. Ein zweiter Teil mit weiteren Statements zum Thema ist bereits in Vorbereitung.
Wer sich zum Thema äußern möchte, ist herzlich eingeladen, dies im Kommentarfeld weiter unten auf dieser Seite zu tun.
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Ein Lob auf die (Sp)artenvielfalt!
Sie fördert das Musizieren, erweitert den eigenen Horizont und lässt uns hinterfragen wofür wir das Ganze eigentlich machen. Ist die Musik für den Musiker da oder umgekehrt? Spielen wir für uns oder das Publikum oder den Anlass?
Gut geplant und geprobt kann jede*r Musiker*in neue Erfahrungen sammeln, Meinungen bilden oder auch ändern und Perspektiven einnehmen und tauschen.
Musikantische Grüße
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