Mitgliederschwund durch Corona: Befürchtung oder Realität?
Eine Freundin aus dem Schwarzwald überraschte mich kürzlich mit der Aussage: „Ich habe mich jetzt übrigens vom Musikverein abgemeldet.“
Ich war geschockt. Für mich selbst geht ja nichts über mein Orchester. Ich vermisse mein Freiburger Blasorchester. Vor allen Dingen die wöchentlichen Proben. Zwei Stunden abschalten können. Sich nur auf die Noten, die MitmusikerInnen, den Klang, die Intonation und auf den Dirigenten konzentrieren. Die Alltagswelt draußen lassen. Und danach noch gemütlich beisammensitzen. Proben sind für mich sehr viel wichtiger als die Konzerte. Wobei mir diese natürlich auch sehr viel Spaß machen. Es tut ja ewig gut, vom Publikum belohnt zu werden. Oder nach einem kleinen Solo oder einer gut überstandenen schwierigen Passage ein leises Füßescharren von der Kollegin zu hören/sehen. Oder gar einen anerkennenden Blick vom Dirigenten zu bekommen. Oder einfach mit sich selbst und seinen Leistungen zufrieden zu sein.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich in einem Musikverein aufhöre, wenn ich über eine gewisse Zeit lang unzufrieden bin (das war zwei Mal schon der Fall). Und unzufrieden ist meine Freundin in ihrem Musikverein – in einem ländlich geprägten Dorf – schon länger als es Corona gibt. Ausschlaggebend für ihre Kündigung war nun aber tatsächlich Corona. Nahezu ein Jahr lang hat sich in ihrem Musikverein nichts bewegt. Es wurden keine alternativen Aktionen angeboten. Sie selbst hat die Verantwortlichen öfters ermuntert. Man könne doch dieses machen. Oder jenes. Ihre Gedanken, Ideen und Anregungen hat sie schließlich auch in einem Brief an die Vorstandschaft geschrieben. Außer einem Online-Meeting hat sich aber nichts getan.
Meine Freundin ist ein Beispiel für die MusikerInnen, die vor Corona schon „Wackelkandidaten“ waren und nun in der proben- und konzertfreien Zeit endgültig das Handtuch geworfen oder besser gesagt, das Instrument an den Nagel gehängt haben.
In 19 Corona-Diskussionsrunden mit insgesamt mehr als 400 Vereinsverantwortlichen und DirigentInnen, die daran teilgenommen haben, habe ich einen Satz immer wieder gehört: „Wir befürchten, dass einige MusikerInnen aufhören“. Meine Frage kam postwendend: „Ist das eine Befürchtung oder haben sich tatsächlich schon MusikerInnen abgemeldet?“ Erfreulicherweise, und das schreibe ich ausdrücklich schon an dieser Stelle im Text, ist es bei den meisten eine Befürchtung. Also eine Annahme. Sie wissen nicht definitiv, ob es überhaupt Abmeldungen geben wird.
Die wenigen, die von Abmeldungen berichten, nennen drei Personengruppen: 1. SeniorInnen, 2. Junge MusikerInnen, die noch nicht lange im Großen Orchester spielen und 3. Wackelkandidaten.
Es kommt für uns alle das Alter, in dem wir an den musikalischen Ruhestand denken. Der Lauf der Zeit. Ich kann gut nachvollziehen, dass da der monatelange Probenausfall die Entscheidung beschleunigen kann. Kann. Muss aber nicht. Als wichtig betrachte ich in diesen Fällen zwei Punkte: Denkt daran, die verdienten Persönlichkeiten nach dem Lockdown in musikalischem Rahmen zu würdigen und Euch zu bedanken. Und zweitens: Bindet Eure SeniorInnen auch nach dem Ausscheiden als aktive MusikerInnen in Eure Aktivitäten ein. Nur weil der- oder diejenige nicht mehr spielt, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht mehr Teil der Musikvereinsgemeinschaft sind. Bei allen außermusikalischen Aktivitäten sind die RentnerInnen selbstverständlich dabei. Eine Idee: Vielleicht ist jetzt eine gute Zeit über eine kleine Senioren-Blaskapelle nachzudenken. Und wenn es zu wenige MusikerInnen im eigenen Verein sind: wie sieht es denn mit älteren Herrschaften (und Frauschaften) in den Nachbarvereinen aus? Kooperation ist das Stichwort!
Junge MusikerInnen zu verlieren tut den Musikvereinen extrem weh. Die Jungen haben einen Ausbildungsweg in unserem Musikverein zurückgelegt, der oftmals schon mit Früherziehung, Blockflötengruppe und Bläserklasse begonnen hat. Sie haben bei uns in der Jugendkapelle gespielt. Und wir waren stolz und glücklich, als wir sie dann endlich in unserem Hauptorchester integrieren konnten. Gerade diejenigen, die erst ein paar Monate vor Beginn der Pandemie in unsere Großen Orchestern übernommen wurden, hatten noch nicht die Gelegenheit, richtig anzukommen. Viele davon haben noch nicht mal das erste große Konzert mit all den glücklichen Momenten, die wir kennen und lieben, gespielt. Noch kein Sommerprogramm mit all den lustigen und geselligen Anlässen erfahren. Und keine Ausflüge und andere Gemeinschaftsaktionen erlebt.
Tja. Und dann eben die Wackelkandidaten. Wie meine Freundin. Diejenigen, die schon lange vor Corona unzufrieden im Musikverein waren. Die das Blasorchester als zeitliche Belastung sahen. Bei denen andere Freizeitaktivitäten schon länger eine höhere Priorität haben. Die durch berufliche (oder andere) Belastung nicht immer die Energie für die abendliche Probe aufbringen konnten. Oder andere Gründe.
Aber wie oben schon geschrieben. Abmeldungen gab es bisher kaum. Zumindest die Vereine, die in den Corona-Diskussionsrunden vertreten waren, berichteten überwiegend, dass sie „befürchten“, dass nicht mehr alle MusikerInnen den Weg zurück ins Orchester finden. Es ist also eine Annahme. Und Annahmen können eintreffen oder auch nicht. Das hängt ja ein Stück weit auch von uns selbst ab. Da gibt es zunächst einmal die Möglichkeit, mit allen Musikerinnen und Musikern zu sprechen. Telefon in die Hand und los geht’s. Sehr schnell bekommt der Vereinsverantwortliche mit dieser Telefonaktion eine Übersicht und einen Eindruck, wer schon die Tür nach draußen ein Stück aufgemacht hat.
Um die Musikvereine, die auch in den Lockdown-Phasen aktiv waren, mache ich mir im Übrigen überhaupt keine Sorgen. Große Sorgen mache ich mir um die Musikvereine, die einfach Pause gemacht haben. Das war im ersten Lockdown noch hinzunehmen. Viele haben letztes Jahr die Pause als angenehme Auszeit und willkommene Verschnaufpause vom Termin-Overkill empfunden. Wer nun jedoch im seit Monaten andauernden zweiten Lockdown nicht aktiv geworden ist, der wird große Probleme bekommen. Wie der Verein meiner Freundin. Fakt ist in ihrem Ex-Musikverein: Es gibt nur noch einen übrig geblieben Trompeter! Wie schon geschrieben, Probleme gab’s in diesem Verein schon vor Corona…
Noch ist es für die bisher wenig Aktiven nicht zu spät. Allerdings allerhöchste Zeit die Indianer zusammen zu trommeln und am Lagerfeuer zu vereinen. Spätestens jetzt anfangen, am üblichen Probentag Online-Meetings durchzuführen, damit dieser Wochentag-Abend in den Terminkalendern wieder gesichert ist.
Für diejenigen, die sich bisher noch nicht mit den Online-Möglichkeiten auseinandergesetzt haben, hier ein paar Tipps:
- Trefft Euch im Online-Meeting-Raum nicht nur zum „Stammtisch“. Versucht jedes Mal ein oder zwei Programmpunkte anzubieten: Musikalischer und/oder geselliger Art. Je mehr Abwechslung, desto besser.
- Falls Personen dabei nicht mitmachen möchten: Versucht herauszufinden, warum das so ist. Wenn das nötige Equipment oder die Medienkompetenz nicht vorhanden sind, helfen Digital-Paten. Laptop unter den Arm und auf geht’s. Zumindest eine Person darf schließlich zu Besuch kommen (wenn nicht sogar mehr). Bei mehreren vor dem Bildschirm macht auch das online Üben richtig Spaß.
- Erfreut Euch an allen, die bei den Online-Angeboten mitmachen. Kommuniziert über alle Kanäle Eure eigene Freude an den virtuellen Meetings. Begeisterung steckt an.
Um es noch einmal deutlich zu schreiben: Es hat bei unseren Musikvereinen keine Abmeldewelle eingesetzt. Ich denke, sogar im Gegenteil: Wir freuen uns alle auf den Neustart. Wir können es kaum erwarten! Befürchtungen sind Annahmen, die überhaupt nicht eintreffen müssen. Wir haben es selbst in der Hand!
Und an die Musikvereine, die Abmeldungen zu verzeichnen haben: Noch ist Zeit, gegen zu steuern. Ideen und Unterstützung gibt’s hier auf dem Blasmusikblog, in den Social-Media-Kanälen, bei den Blasmusikverbänden sowie bei Euren Nachbarvereinen und KollegInnen. Nutzt die noch ruhige Zeit, in Euch zu gehen – Selbstreflexion – und eine Analyse zu machen, wo Ihr mit Eurem Musikverein steht. Untersucht welche Probleme im Raum stehen und was die (neuen) Herausforderungen sind. Doch vor allen Dingen, schaut genau hin, wo Verbesserungspotential und Chancen stecken.
Es wird in unseren Musikvereinen zunächst nicht alles so sein, wie es mal war. Wir müssen viel aufholen. Wir brauchen Mut, Kraft und Energie. Und noch mehr: Gebündelte Kräfte sind nötig. Kooperation, Teamgeist und Begeisterung. Leidenschaft für unsere Blasmusik! Dann schaffen wir es ohne größere Blessuren durchzustarten. Da bin ich sicher.
Kleine Ergänzung am 6. Mai 2021: In der 20. Corona-Diskussionsrunde, am 4. Mai, also 1 Tag nach Erscheinen dieses Beitrags, habe ich folgende Umfrage unter den TeilnehmerInnen gemacht:
Hallo Alexandra,
ich sehe noch zwei andere Probleme:
1. Einige Musiker hatten leider Corona und insbesondere bei den Bläsern ist damit dann vorerst “lufttechnisch” nämlich Schluss mit Musik. (Hier in Hamburg werden gerade “Erfolge” beim Trainieren der Lungenkapazitäten mit Hilfe von (Opern-) SängerInnen, die mit von Corona genesenden Patienten quasi Gesangstechniken/-übungen durchführen – denkbar wäre das sicherlich auch oder insbesondere für Musiker.)
2. Insbesondere in einem “meiner” Orchester gehöre ich mit 55 zur “Minderheit” der jüngeren MusikerInnen und obwohl ich in engem Kontakt mit allen Musikern stehe, ist schon jetzt fraglich, wer besonders auch aus gesundheitlichen Gründen wieder zur Musik zurück kommen kann.
Das kommt zur “Unlust” oder der “verlorenen Lust” am Musizieren leider auch noch dazu, bei den Überlegungen, wann und vor allem ob es mit der Musik weiter geht/gehen kann. Hoffen wir das Beste…
Danke, lieber Klaus, für diese zwei sehr wichtigen Hinweise bzw. Ergänzungen. Das sind in manchen Musikvereinen tatsächlich gravierende Probleme, die eventuell nicht so schnell zu lösen sind. Aber genau, hoffen wir das Beste! Ich setze voll auf die Lust der MusikerInnen, endlich wieder spielen zu dürfen… (Immer positiv kommunizieren…)
Liebe Grüße in den Norden
Alexandra
Der Schwund wird sich erst einige Zeit nach Wiederbeginn quantifizieren lassen. Jetzt werden die wenigsten noch darüber nachdenken. Eine persönliche Entscheidung wird vermutlich erst später fallen, wenn man vom Sofa aufstehen muss und wieder in die Probe gehen sollte. Gesellig Angebote sind gut, der eigentlich Vereinszweck ist aber Musik. Dort sehe ich leider wenig Aktivitäten in den Vereinen. Gesellige Veranstaltungen wird es nach Corona haufenweise geben. Ob wir die Mitglieder für die Musik wieder begeistern können werden? Eine Stimme sagte vor kurzem: “Es werden halt nur die Guten und Ambitionierten übrigbleiben”. Ich möchte das nicht hoffen, aber von der Hand zu weisen ist dieses Szenario leider auch nicht so ganz.
Grüße aus dem Schwarzwald
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