UNerHÖRTes! Was ist denn das?
Neue leichte – im Sinne von einfacher – Musik in einem zeitgenössischen Klangidiom ist für BläserklassenleiterInnen und JugenddirigentInnen schwierig zu finden.
Obwohl.
Den Teilnehmern des Festivals UNerHÖRTes, das Mitte Oktober in der Bayerischen Musikakademie Hammelburg stattgefunden hat, wurde es sehr leicht gemacht, genau solche Werke für ihre Bläserklassen und Jugendkapellen zu finden.
Doch der Reihe nach.
Da gibt es eben diese Bayerische Musikakademie in Hammelburg, die Jahr für Jahr bis zu sechs Kompositionsaufträge an Komponisten aus Deutschland vergibt. In diesem Jahr hat sie an insgesamt vier Komponisten drei Aufträge für Musik für Bläserklassen im zweiten Jahr und drei Aufträge für Jugend- bzw. Mittelstufenorchester etwa im Grad 3 vergeben. Beim Festival UNerHÖRTes wurden diese sechs Werke aufwändig in Szene gesetzt.
Es sind nicht jedes Jahr die gleichen Komponisten, die Aufträge für dieses Festival, das es schon seit fünf Jahren gibt, erhalten. In diesem Jahr wurden Kuno Holzheimer (ein Werk für Bläserklasse), Hubert Hoche (ein Werk für Jugendblasorchester), Dr. Patrik Bishay (je ein Werk für Bläserklasse und Jugendblasorchester) und Rolf Rudin (je ein Werk für Bläserklasse und Jugendblasorchester) beauftragt. Alle Komponisten waren beim Festival anwesend.
Zu diesem Festival waren einerseits DirigentInnen bzw. LeiterInnen von Bläserklassen und Jugendorchestern eingeladen, die Werke auf vielfältige Weise kennen zu lernen. Andererseits ganze Bläserklassen und Jugendkapellen, die zum Festival kommen konnten, um zusammen mit den Komponisten die Werke zu erarbeiten, einen Bezug zu einem „lebenden“ Komponisten zu bekommen und ihn mit Fragen zu löchern.
Die Struktur des Wochenendes sah zwei Tage Workshop für die Teilnehmer (BläserklassenleiterInnen, DirigentInnen) vor. Am ersten Tag das „theoretische“ Kennenlernen der sechs Werke durch den Austausch mit und die Analyse durch den jeweiligen Komponisten. Am Abend wurden die Werke “prima vista” durch das Bezirksjugendblasorchester Unterfranken unter der Leitung von Prof. Johann Mösenbichler angespielt. Die Teilnehmer erhielten auch die Gelegenheit mit fachmännischer Anleitung die Werke zu dirigieren und erhielten somit quasi nebenbei viele Tipps für ihre Arbeit als Bläserklassenleiter und Dirigenten vom Profi.
Am zweiten Tag, zu dem die Bläserklassen und Jugend- bzw. Mittelstufen-Blasorchester eingeladen waren, wurden die Werke von den Bläserklassen bzw. den Jugendblasorchestern zusammen mit den Komponisten geprobt. Zum Abschluss des Festivals UNerHÖRTes gab das Polizeiorchester Bayern unter der Leitung von Prof. Johann Mösenbichler ein Konzert in der Klosterkirche Hammelburg, bei dem u. a. die sechs Werke uraufgeführt wurden.
Der Samstag morgen begann nach der Begrüßung durch den Künstlerischen Leiter der Bayerischen Musikakademie Kuno Holzheimer mit einem Impulsreferat von Oliver Nickel zum Thema „…. dann kommt ja keiner …“.
Kommt wirklich keiner zu uns ins Konzert, wenn wir zeitgenössische Musik spielen? Oder anders gefragt: Kommen die Besucher nur zu uns ins Konzert, wenn wir Bearbeitungen von Film-, Pop- und Musical-Melodien spielen? Und dann bleibt ja auch noch die Frage, zeitgenössische Musik für Bläserklassen oder Jugendorchester: Brauchen wir das überhaupt?
Oliver Nickel, u. a. Dirigent des Musikvereins „Viktoria“ Altenmittlau und des Sinfonischen Landesblasorchester des Hessischen Turnerbunds, sprach zunächst über unsere Hörgewohnheiten. Das, was wir kennen, finden wir gut. Mit allem „Neuem“ haben wir erst einmal ein Problem. So erging es den Menschen in den vergangenen Musikepochen auch. Die Klänge zeitgenössischer Musik sind uns nicht vertraut. Sie sind nicht bequem. Klingen allenfalls interessant. Doch immer etwas seltsam in unseren Ohren.
Ein Kritiker zur Zeit Beethovens hat in dieser Weise eine Sinfonie von Beethoven kritisiert. Heute empfinden wir die Musik Beethovens als wohltuend, inspirierend und berührend. Die Klänge sind uns vertraut. Das hat ja dann wohl, wenn wir dem Kritiker Beethovens glauben sollen, ein paar Jahrzehnte gedauert, bis die Menschheit soweit war.
Daraus lässt sich schließen, je mehr und früher wir uns mit der zeitgenössischen Musik noch lebender Komponisten befassen, desto vertrauter werden uns die Klänge.
Dirigent, Orchester und Publikum bilden im Prinzip ein Spannungsfeld, in dem sich die gegenseitigen Erwartungen, der (kulturelle) Auftrag und der Anspruch im Zusammenspiel oft reiben. Der Dirigent hat beispielsweise einen gewissen Anspruch an sich und an sein Orchester. Sein Auftrag ist aber auch pädagogisch zu sehen. In gewisser Weise hat er auch den Auftrag zur kulturellen Bildung seiner MusikerInnen und auch des Publikums.
Einig war sich das Plenum bei der anschließenden Diskussion, dass das Publikum nicht zu unterschätzen ist. Es anerkennt durchaus interessante, spannende, berührende Programme und Werke und ist – je mehr sich die Menschen im Publikum mit der angebotenen Musik vertraut machen – eher durch Pop-, Film- und Musical-Musik gelangweilt. Das hören sie schließlich immer und überall…
Kinder und Jugendliche werden in ihren Hörgewohnheiten früh geprägt. Mit dem was sie angeboten bekommen, befassen sie sich. Je früher wir damit beginnen, ihnen „andere“ Musik, als sie täglich in Youtube oder sonstigen Kanälen zu hören bekommen, anzubieten, desto eher entwickelt sich auch der Geschmack und vor allem das Verlangen nach vielfältiger, interessanter, inspirierender Originalmusik.
Kuno Holzheimer komponierte für das Festival „A Visit to Brother J.“ Im Prinzip eine Paraphrase über das Kinderlied „Bruder Jakob“. Das Besondere an diesem Werk: der Einsatz von Bodypercussion. Dies einerseits, weil es den Kindern Spaß macht, aber auch, weil Bläserklassen-Kinder in der Regel noch kein Werk mit 3 oder mehr Minuten spielen können. Bei der theoretischen Vorstellung übte Kuno Holzheimer mit den Teilnehmern zunächst den Bodypercussion-Teil mit Schnalzen, Klatschen, Patschen und Stampfen. Um dem Ganzen einen Puls bzw. ein Metrum zu geben, legte er die Play-Along-CD zum Buch „Scales under construction“ ein, auf der jede Menge unterschiedliche Beats in verschiedenen Tempi und Stilen eingespielt sind. Am folgenden Tag übte Kuno Holzheimer das Gleiche mit den drei anwesenden Bläserklassen, die alle gemeinsam spielten, ein. Innerhalb einer kleinen Stunde schaffte Kuno Holzheimer zusammen mit den Bläserklassen das Werk aufführungsreif vorzubereiten. Ein riesiger Spaß für alle!
Apropos Bläserklassen: angemeldet haben sich jeweils eine Bläserklasse aus einer Mittelschule in Hammelburg, eine Vereins-Bläserklasse aus der Nähe von Würzburg und eine Erwachsenen-Bläserklasse aus Nieder-Roden. Es musizierten also Kinder und Erwachsene von 10 bis 50 Jahren auf Anfänger-Niveau gemeinsam.
Das zweite Werk für Bläserklasse stellte der Komponist Rolf Rudin vor. Er hat schon mehrere Werke für Bläserklassen geschrieben. Thematisch siedelt Rolf Rudin alle Werke für Bläserklasse immer in den Bereich Internet ein – Themen, die Kinder im entsprechenden Alter eben interessieren. Für dieses Festival komponierte er das kleine Werk „SMS“.
Rolf Rudin hat einen indirekten Zugang zu Bläserklassen durch seine Frau Brigitte, die schon seit vielen Jahren Bläserklassen an Schulen leitet. Deshalb überlies er es auch gerne seiner Frau, „SMS“ mit den Bläserklassen einzustudieren. Am Ende der Probe kam der unüberhörbare, vielfache Ruf, das Stück noch einmal spielen zu dürfen.
Wichtig ist für Rolf Rudin, dass die Kinder mit jedem Stück das sie spielen auch etwas hinzulernen. Außerdem ist es für ihn wichtig, dass jedes Kind, egal welches Instrument es spielt, einmal die Melodiestimme hat. Sein Selbstverständnis als Komponist ist auch dadurch geprägt, dass er einen soziologisch-pädagogischen Auftrag für sich selbst sieht.
Für Jugendblasorchester komponierte Rolf Rudin „Geheimnisvoller Ort“. Inspiriert durch seinen Lieblingsmaler Paul Klee, der viele Werke in Bezug auf einen bestimmten Ort geschaffen hat, erschuf Rudin ein Werk in seinem eigenen Ausdrucksmedium, der Musik. Und wie Paul Klee auch immer wieder Bilder zerschnitten und neu zusammen gesetzt hat, übernahm Rudin diese Technik aus musikalischer Sicht. Wie er selbst sagte, hatte er großen Spaß daran, sein Werk „zu zerschneiden“.
Der Auftrag an Hubert Hoche zum Schreiben eines Werkes für Jugendblasorchester für das Festival UNerHÖRTes kam in einer Zeit, die für Hubert Hoche nicht ganz einfach war und in der gewisse Enttäuschungen einen Moment der Melancholie in ihm ausgelöst haben. So auch der Titel seines Stücks: „Melancholy Moment“. Im Vortrag mit den teilnehmenden BläserklassenleiterInnen und DirigentInnen analysierte er das Werk, das aus zwei Haupt-Themen besteht, zunächst thematisch und kompositorisch. Die Teilnehmer erhielten dadurch auch einen Einblick in die Schaffensweise eines Komponisten allgemein und von Hubert Hoche im Besonderen. Das Werk wurde bisher noch nicht von einem Orchester eingespielt. Als Hörbeispiel diente Hubert Hoche, wie auch seinen Kollegen, eine Midi-Version, die auch eine Grundsatz-Diskussion zur Verwendung von Midi-Versionen als Hörbeispiele überhaupt ausgelöst hat. Dazu aber später mehr.
In der Probe mit dem Bezirksjugendblasorchester Unterfranken am zweiten Festival-Tag kamen dann auch die Schwierigkeiten in der Umsetzung von “Melancholy Moment” zum Vorschein. Es ist kein Werk, das ein Orchester auflegt und sofort klingt es gut. Eine gründliche Probenarbeit ist nötig, um diesem Stück auf Grund seiner Komplexität seine Geheimnisse zu entlocken. Konnte man in der kurzen Probe mit dem Komponisten selbst schon erahnen, war der Zuhörer dann bei der Uraufführung durch das Polizeiorchester Bayern gefesselt von diesem spannenden, eigentlich melancholischen, aber auch sehr hoffnungsvollen Werk.
Ein in der Bläserszene noch unbekannter Komponist ist Dr. Patrik Bishay. Er komponiert hauptsächlich für Sinfonieorchester, für Hörspiele, arrangiert aber auch für spezielle interdisziplinäre Projekte. Die beiden Werke „Die Raubritter“ für Bläserklasse und „Fools’ March“ für Jugendblasorchester sind seine ersten Werke für Blasorchester. In seiner Vorstellung der Werke machte er deutlich, dass es besonders für Kinder wichtig ist, dass sie mit den Klängen Bilder verknüpfen können, damit sie so den Zugang zur Musik erhalten. Die praktische Umsetzung als Dirigent der beiden Werke übernahm für Patrik Bishay, der keine Dirigierausbildung hat, Hubert Hoche. In Zusammenarbeit probten sie „Die Raubritter“ mit der großen Bläserklasse und „Fools’ March“ mit dem Bezirksjugendblasorchester Unterfranken und MusikerInnen der teilnehmenden Ensembles.
Das Festival UNerHÖRTes macht den Austausch zwischen Komponist und Ausführenden möglich. Rolf Rudin äußerte sich dahingehend, dass er die Zusammenarbeit mit Dirigenten als sehr wichtig, ja sogar als unverzichtbar ansieht. Deshalb sollte aus dem von Oliver Nickel in seinem Impulsreferat vorgestellten Spannungsfeld der Komponist nicht vergessen werden. Nur durch die Einbeziehung aller vier Partner – Dirigent, Orchester, Komponist und Publikum – ist eine Weiterentwicklung unserer speziellen Blasorchesterkultur möglich und gegeben.
Das Festival UNerHÖRTes war auch ein Ort von lebhaften Diskussionen. So war ein großes Thema zwischen den unterschiedlichen Teilnehmern, ob Midi-Aufnahmen die Verbreitung der neuen Werke eher fördert oder verhindert. Ein vernünftiges, klanglich annehmbares Ergebnis lässt sich technisch nur mit viel Einsatz und Arbeit erzielen. Ob dies im Verhältnis steht zum Ertrag ist sehr fraglich. Die Vermittlung von Klangfarben und Emotionen ist bei Midi-Aufnahmen unmöglich. Die optimale Situation wäre eigentlich, dass sich der Dirigent das Werk mit Partitur und Klavier erarbeitet und so den Zugang dazu bekommt. Die Ausbildung, dies so zu tun, haben aber die meisten Dirigenten eines Blasorchesters nicht. Mögliche Lösungsansätze: Aufnahmen mit professionellen Sinfonischen Blasorchestern (kostenintensiv) oder eine entsprechende Ausbildung der Dirigenten (zeitintensiv).
Das Festival UNerHÖRTes ist Vorreiter in der Entwicklung und Realisierung von neuen Werken für Bläserensembles im niedrigen Schwierigkeitsgrad in Deutschland. Die Blasorchesterszene darf sich glücklich schätzen über das, was das Festival und somit auch die Bayerische Musikakademie Hammelburg leistet. Jedes Jahr bis zu sechs Kompositionsaufträge zu vergeben ist vorbildlich. Gefördert wird nicht nur neue Literatur, sondern insbesondere auch die Komponisten – wenn auch nur in einem bescheidenen finanziellen Rahmen. Hoffen wir auf weitere Initiativen in dieser Richtung in Deutschland. Gerne auch die Unterstützung von neuer Literatur im Bereich Mittel- bis Oberstufe. Die Anzahl der Komponisten in Deutschland, die sich mit Originalliteratur für Blasorchester beschäftigen und damit über die Grenzen hinaus erfolgreich sind, hält sich immer noch in Grenzen. Die Kulturnation Deutschland hängt seinen Nachbarländern in diesem Bereich eindeutig etwas hinterher.
Für die Kinder und Erwachsenen in den Bläserklassen und im Jugendorchester waren die Proben mit den Komponisten erfahrungsreich. Das abschließende Konzert mit dem Polizeiorchester Bayern stellte jedoch nicht nur für diese den absoluten Höhepunkt des Festivals UNerHÖRTes dar. Die Komponisten beispielsweise hörten zum ersten Mal ihre Werke auf professionellem Niveau, genau so, wie sie es sich in ihrem stillen Kämmerlein ausgedacht und vorgestellt haben. „Erhebend und zufrieden“ sind die Wörter, die dazu passen. Die sechs Uraufführungen des Konzerts bettete Chefdirigent Prof. Johann Mösenbichler in vier originale, passende Blasorchesterwerke ein. Darunter auch ein neues Werk, das erst zum zweiten Mal aufgeführt wurde und von der Gema-Stiftung gefördert wurde: „Das Licht der Seele“ von Yannik Helm. Auch dieser Komponist war im Konzert anwesend. Die mehr als 400 Besucher in der Klosterkirche zeigten ihre Begeisterung über das Konzert, die gespielten Werke und das Polizeiorchester Bayern mit großem Applaus und Standing Ovations.
Abschließend möchte ich für mich und meine Teilnahme am Festival UNerHÖRTes sagen, dass ich es bedauere, dass sich die Partner der Blasorchesterszene im musikalischen Bereich einfach viel zu wenig persönlich treffen, um sich auszutauschen. Nur gemeinsam können wir unsere Musik weiterbringen und als kulturellen Kunstfaktor etablieren. Dieser Wunsch bezieht sich nicht allein auf avantgardistische Werke, sondern insgesamt auf die Weiterentwicklung unserer eigenständigen Blasorchesterliteratur. Wobei das Jammern auf sehr hohem Niveau ist. Wie wir alle wissen, ist das Spielen von Werken von „noch lebenden Komponisten“ in den professionellen, semiprofessionellen und Amateur-Sinfonieorchestern nicht so weit verbreitet wie in unserer Blasorchesterkultur. Die Sinfonischen Blasorchester sind für zeitgenössische, originale Musik, egal in welcher Klangsprache – ob avantgardistisch, gemäßigt modern mit programmatischen Inhalten oder Stile aus verschiedenen Epochen, Kulturen und Genres vermischend – offen, danach hungrig und mehr als bereit. Das ist doch schön.
PS Auch im nächsten Jahr findet das Festival UNerHÖRTes statt. Die Kompositionsaufträge dafür sind bereits vergeben. Am Wochenende 20. / 21. Oktober 2018 sind wiederum DirigentInnen und BläserklassenleiterInnen, sowie ganze Bläserklassen und Jugendorchester in die Bayerische Musikakademie Hammelburg eingeladen, die neuen Werke kennen zu lernen, die Komponisten zu treffen, sich mit ihnen auszutauschen und gemeinsam über unsere Blasorchesterszene ins Gespräch zu kommen. Die Teilnahme von Bläserklassen und Jugendorchestern ist übrigens kostenfrei. Wäre das nicht ein prima Ziel für einen musikalischen Ausflug?
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