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Die Midwest Clinic – eine Betrachtung von Nahem

Mit Beiträgen von Miguel Etchegoncelay, Sandro Blank und Gauthier Dupertuis

Und Fotos von Dieter Adam

Auf Basis des Programmbuchs die Midwest Band Clinic vorzustellen und zu beurteilen ist die eine Sache. Dies habe ich ausgiebig im Beitrag Die Midwest Clinic – eine Betrachtung aus der Ferne getan. Da ich selbst schon oft auf der Midwest war konnte ich das Programm sehr gut einschätzen. Etwas ganz anderes ist es jedoch, Berichte von Personen zu bekommen, die bei der Ausgabe von 2024 direkt vor Ort waren. Die Delegationen der europäischen Länder waren teilweise recht groß. Es freut mich, dass Miguel Etchegoncelay, Sandro Blank und Gauthier Dupertuis einige Fragen zur Midwest für die Leserinnen und Leser des Blasmusikblogs beantwortet haben.

Miguel Etchegoncelay
Miguel Etchegoncelay
Sandro Blank
Sandro Blank
Gauthier Dupertuis
Gauthier Dupertuis

Was bedeutet der MidWest in Chicago für dich, für die Blasorchester-Szene weltweit und für die Blasorchester-Szene in Europa?

Miguel Etchegoncelay: „Für mich persönlich ist die MidWest ein Muss für alle, die sich mit den neuesten pädagogischen Trends in Bezug auf Bläserensemble, Dirigieren und Repertoire auseinandersetzen wollen, zwar etwas zu sehr auf Amerika fokussiert, aber immer noch interessant als Bezugspunkt zu Europa.
Für die internationale Szene scheint es mir ein wichtiger Kongress zu sein, da die ganze Welt nach Chicago kommt, um sich zu treffen. Ich denke, das ist der größte Vorteil für uns: ein Treffpunkt für alle, die mit Blasorchester zu tun haben. 
Einige Aspekte, die, wie ich gerade sagte, etwas zu amerikanisch sind, erscheinen uns in Europa weniger relevant, da unsere Realität ganz anders ist, aber es ist interessant zu beobachten und zu hören, wie es in den USA gemacht wird, da es dort ein 100-jähriges pädagogisches Know-how und ein Konzept gibt, das wir nicht so institutionalisiert haben wie sie. “ 

Sandro Blank: „Ich geniesse die Konferenzen in Chicago, da ich mich in dieser Zeit, weit weg vom Tagesgeschäft, voll und ganz auf neue Dinge, Werke, Menschen einlassen kann. Trotz vieler Konzerte, Treffen, Gespräche und Inputs ist die Woche in Chicago sehr „entschleunigend“ für mich. Zusätzlich geniesse ich es, Spiele der NBA oder NHL zu besuchen. 🙂
Ich denke die meisten meiner Kolleg:innen, welche in Chicago sind, sehen diese Woche als grosses Klassentreffen. Treffen/Begegnungen, welche sonst nie möglich wären, (da viel zu kompliziert zu organisieren) macht die Midwest Clinic möglich. Im Speziellen nehme ich den „WASBE-booth“ immer wieder ein toller meeting point wahr. Man hat die Möglichkeit, seine Kolleg:innen wieder einmal zu „spüren“. Grundsätzlich lässt einen die Konferenz „über den Tellerrand“ schauen. Ich schätze die Möglichkeit, neue Leute kennenlernen zu dürfen. Dies passiert ganz automatisch, sehr ungezwungen und spontan. Für viele ist die „Midwest“ ein Startpunkt für neue Kollaborationen aller Art. Die schiere Menge an zu hörenden neuen Werken ist einzigartig und ist oft Anstoss für neue Programme, Projekte und Visionen.“

Gauthier Dupertuis: „Für mich ist das Chicago Midwest Festival einer der wichtigsten Treffpunkte für jeden Amateur oder Profi, der in der Welt der Blasmusik aktiv ist. Die musikalischen, pädagogischen und vernetzenden Interessen, die dieses Festival bedeutet, sind für mich äußerst wichtig.
Zwar ist das Festival eher auf die „amerikanische“ Praxis der Blasmusik ausgerichtet. Aber sowohl das dargebotene Repertoire, die in den Konferenzen behandelten pädagogischen Schwerpunkte als auch die Begegnungen, die wir als Europäer dort machen können, sind äußerst bereichernd!“

Gauthier Dupertuis
Gauthier Dupertuis

Was waren für dich die wichtigsten Erfahrungen, Begegnungen, Konzerte, Werke und Veranstaltungen des diesjährigen MidWest?

Miguel Etchegoncelay: „Für mich als professionellen Dirigenten sind die Konferenzen und Meisterklassen von anerkannten Persönlichkeiten der Szene das, was mich am meisten an der MidWest fasziniert. Ich habe mit befreundeten Kollegen wie Gary Hill, John Lynch, Cynthia Johnston-Turner oder Jason Fettig gesprochen, was mich sehr gefreut hat. Ich habe Komponisten wiedergesehen, mit denen ich immer noch Projekte vor habe, wie Frank Ticheli, Giovanni Santos, etc. Vor allem aber habe ich versucht, durch WASBE kulturelle Kooperationen mit Institutionen aufzubauen, die die gleiche Art von Arbeit leisten, wie wir es auf globaler Ebene tun. In diesem Zusammenhang traf ich mich mit Vertretern der NBA (National Band Association), der CBDNA (College Band Directors National Association), einschließlich ihres Vorsitzenden Michael Votta, den New Works Projects durch Kristine Dizon, etc.
Wir treffen auch viele Freunde, wie die Kollegen von der IGEB (Internationale Gesellschaft zur Erforschung und Förderung der Blasmusik), mit denen wir ebenfalls Projekte entwickeln.
Was die Neuheiten betrifft, so haben wir 13 Komponisten an unserem WASBE-Stand willkommen geheißen, die ihre Produktionen zeigen wollten. Viele von ihnen waren für mich unbekannt. Die MidWest dient auch dazu, Kontakte zu knüpfen und Persönlichkeiten zu entdecken.
Es gibt einen sehr wichtigen Punkt in den USA, der auf der MidWest systematisch behandelt wird, nämlich die Frage der Vielfalt und der Inklusion. Das Thema ist institutionalisiert und hat Eingang in den Klassenraum gefunden. Das bedeutet, dass jede pädagogische Entscheidung, insbesondere die Wahl des Repertoires, diesen Aspekt unbedingt berücksichtigen muss. Es ist eine freiwillige Art, die Linien zu verschieben, und hat den Vorteil, das Thema auf den Tisch der Diskussion zu legen.“ 

Sandro Blank: „Die Schweizer Delegation war sehr gross in diesem Jahr. Wir hatten zwei tolle Nachtessen zusammen und die Möglichkeit viel zu sinnieren. Persönlich habe ich es geschätzt Jim Stephenson zu treffen und mich mit ihm über meine Aufführungen seiner 2. Sinfonie vom vergangenen Herbst zu unterhalten. Er konnte nicht dabei sein und war sehr interessiert. Im kommenden Februar werden weitere Aufführungen dieses atemberaubenden Werks zusammen mit dem aulos Blasorchester folgen. Jim stellte mich noch einigen Kollegen vor (Komponisten/Dirigenten), welche ich noch nicht kannte. Tolle Begegnungen! Als Dirigierlehrer interessiert mich natürlich auch das immer stattfindende „Reynolds Conducting Institute“. Mister Reynolds hat in diesem Jahr aber leider nicht aktiv unterrichtet. In einem Seminar zu seinem neuen Buch hatte er jedoch tolle Geschichten parat. H. Robert Reynolds live zu erleben ist für mich als junger Dirigent und Lehrer immer sehr inspirierend.
Die musikalischen Highlights waren in diesem Jahr sehr divers. Das eigentliche Highlight war ein Quartettkonzert der „Barcelona Clarinet Players“. Viel davon gehört, aber noch nie live erlebt, war ich schlichtweg begeistert von diesem Ensemble. Desweiteren hat mich ein Konzert eines amerikanischen Schülerorchesters sehr beeindruckt. Die saubere Arbeit in Bezug auf die Grundparameter des Ensemblespiels ist bei diesen Ensembles immer wieder beeindruckend.“

Gauthier Dupertuis: „Zunächst einmal hatte ich die Gelegenheit, viele Dirigenten und Dirigentinnen sowie viele Komponisten und Komponistinnen aus der ganzen Welt persönlich zu treffen, von denen einige zu meinen Idolen gehören! Es war sehr bereichernd, ihnen meine positiven Eindrücke von ihrer Arbeit mitzuteilen und ihr Interesse an meiner eigenen Arbeit zu bemerken. Als junger Dirigent und Komponist war dies sehr anregend für mich.
Ein Konzert, das mich besonders beeindruckte und bewegte, war das des Inagakuen Sogo High School Wind Orchestra; ein japanisches High School Orchester. Es war von absolut bemerkenswerter technischer und musikalischer Perfektion. 
Schon während des Aufwärmens waren wir erstaunt, dass ein Ensemble so sehr wie eine Orgel klang. Die Aufführungen von John Mackeys Haunted Objects und Satoshi Yagisawas Hymn to the Sun haben mich am meisten beeindruckt. So viele Emotionen! Ich konnte nichts dagegen tun: Als ich sah, wie viel Freude diese jungen Musikerinnen und Musiker ausstrahlten, musste ich vor Glück ein paar Tränen vergießen. Ehrlich!“

Inagakuen Sogo High School Wind Orchestra
Inagakuen Sogo High School Wind Orchestra

Inwiefern unterscheidet sich die Blasorchester-Szene in den USA von der in Europa?

Miguel Etchegoncelay: „Grundsätzlich würde ich sagen, dass Europa eine Tradition von Community Bands (Musikgesellschaften) entwickelt hat, die in den Vereinigten Staaten etwas vernachlässigt wurde, da sie mit der Schulmusikbewegung begonnen hat. Seitdem ist die amerikanische Szene in den Schulen sehr stark, im Gegensatz zu unserer Realität. Ich würde sagen, dass der größte Unterschied im Repertoire und in der Beziehung zum Publikum liegt. In Europa spielen wir ein eher mainstreamiges Repertoire, in dem leichte Musik eine wichtige Rolle spielt, wie Märsche und Medleys, während wir in den USA, als Folge eines stärker pädagogisch ausgerichteten Systems, etwas anspruchsvollere Literatur behandeln, aber oft für ein kleineres Publikum. Ich denke, ein Kompromiss zwischen den beiden Welten wäre interessant!“

Sandro Blank: „Die ganze Systematik ist eine andere. Das Praktizieren des Mediums ist fest im Schulalltag verankert. Die Weiterführung auf „Community-Ebene“ ist jedoch nicht vergleichbar mit Europa. Als Europäer an der Midwest Clinic ist man immer wieder aufs Neue beeindruckt von der unglaublich hohen Quantität der Dinge. Es passiert dermassen viel Neues auf allen Leistungsstufen. Dies für sich zu filtern und das herauszunehmen, was interessant sein könnte, ist oft schwierig.“

Gauthier Dupertuis: „Der Hauptunterschied zwischen unseren beiden Welten besteht natürlich darin, dass viele amerikanische Ensembles an Schulen gebunden sind, was in Europa kaum oder gar nicht der Fall ist. Somit ergibt sich ein enormer Bedarf an neuen Stücken und dafür vorgesehene Unterrichtsmaterialien. Als Europäer kann man sich daher leicht inmitten all dieser Informationen ein wenig verloren fühlen.“

Philip Sparke
Philip Sparke
Johan de Meij
Johan de Meij
Hubert Hoche
Hubert Hoche

Welche neuen Erkenntnisse bringst du für deine musikalischen Aufgaben mit nach Hause?

Miguel Etchegoncelay: „Ich bringe immer neue Ideen mit, Infragestellungen und vor allem die Bestätigung, dass unser Weg in die richtige Richtung geht. Die Konfrontation mit anderen Vorgehensweisen hat immer positive Auswirkungen. Unser Know-how in Europa hat den Reichtum und das Gewicht der Tradition. Ich sehe das jedes Mal, wenn ich z. B. einen Dirigierkurs besuche. Wir erklären manche Dinge nicht, die eigentlich selbstverständlich sind. Ich denke, wir haben weniger das Bedürfnis, die Kunst zu rationalisieren und zu erklären, weil wir sie auf eine andere Art und Weise erleben. Die Vermittlung von Wissen erfolgt durch einen universalistischeren Ansatz und weniger individualistisch und/oder spezialisiert, wenn ich das so sagen darf. Ein konkretes Beispiel: Wir haben die Tendenz, über Führung als einen umfassenden Beruf zu sprechen. Ihr System trennt sehr (zu?) deutlich zwischen Orchesterleitung und Blasorchesterleitung. Das Wissen ist viel stärker segmentiert und mechanisiert als bei uns. Ich nehme an, dass dies nur eine Strategie ist, denn sie haben auch bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. “

Sandro Blank: „Was ich mitnehme sind Ideen. Ganz konkrete, aber auch (noch) schwammige Visionen. Ich hatte grosse Freude, dass wir als grosse Schweizer Gruppe vertreten waren. Dies zeigt mir das nachhaltige Interesse unserer inländischen Szene an den aktuellen Dingen. Wie immer habe ich mich natürlich mit einigen neuen Partituren und Visitenkarten von Komponisten eingedeckt. Mal schauen, was aus all dem wird. Ich bin gespannt.“

Gauthier Dupertuis: „Als Dirigent hatte ich die Gelegenheit, eine riesige Anzahl neuer Stücke, eminent interessante neue (und weniger neue) Komponisten und Komponistinnen zu entdecken! Auch die Vorträge, die ich besucht habe, haben mir einige Anregungen gegeben, sowohl für die Art und Weise wie ich eine Probe leite, als auch für die Art und Weise, wie ich komponiere.
So viele Menschen auf dem McCormickPlace und bei den Konzerten zu sehen, hat mir auch ein wenig Hoffnung gegeben, dass unsere Szene überlebt und interessant bleibt. Die Welt der Blasmusik ist vielfältig, komplex und interessant!“ 

Herzlichen Dank an Miguel Etchegoncelay, Sandro Blank und Gauthier Dupertuis für ihre Eindrücke direkt von der Midwest Band Clinic. Vielen Dank auch an Dieter Adam für die vielen Fotos!

Alexandra Link

Musik ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens. Musizierende Menschen zusammen zu bringen meine Leidenschaft.

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