Von der Lust neues Repertoire zu entdecken
Literaturrecherche für Dirigent:innen
Wer heutzutage sagt, es gibt keine guten Originalwerke für Blasorchester, hat schlichtweg keine Ahnung oder ist zu faul sich mit dem Repertoire der noch lebenden Komponisten zu beschäftigen.
Doch halt! Ich habe mir vorgenommen, auf dem Blasmusikblog immer positiv zu bleiben und durch die eigene Begeisterung die Menschen, die in der Blasmusik tätig sind, zu motivieren und zu unterstützen. Mit Gemaule und Gejammere funktioniert das nicht. Mit gehässigem Sarkasmus auch nicht.
Ich beginne den Text also von vorne:
Ist es nicht wunderbar, wie viele tolle, hervorragende Originalwerke für Blasorchester es heutzutage gibt? Wie glücklich können wir Blasmusiker:innen sein, dass es Komponisten gibt, die sich speziell um uns kümmern, so dass wir nicht mehr nur auf Bearbeitungen und Transkriptionen für unser Medium zurückgreifen müssen, wie das noch vor 50 bis 150 Jahren Jahren der Fall war. Das Repertoire ist vielfältig. Die Komponisten schreiben für uns nicht nur Konzertwerke, sondern neue Fanfaren, Hymnen, Choräle, Solowerke, unterhaltende Werke, Märsche, Tänze, Messen, Suiten, und, und, und… Es gibt Werke mit bewährten Kompositionstechniken, aber auch Anlehnungen und sehr kreative Einfälle jenseits der homogenen Wohlklänge. Angereichert mit Effekten – oder nicht. Manche Werke mit für uns außergewöhnlichen Instrumenten wie z. B. Cajons, Akkordeon oder einer Geige. Spannende Werke mit Erzähler, Darsteller oder Gesang. Oder gar einer Rockband. Die ganze Bandbreite an Stilen, Genres, Geschmäckern, Techniken, steht uns offen. Ich liebe es, neue Blasorchesterwerke zu entdecken. Ich liebe es, mich mit dem Oevre von Komponisten zu beschäftigen. Ich liebe es zu sehen, wie gerade wieder eine neue Generation von Komponisten in den Startlöchern steht. Ich liebe es, genau da hin zu reisen, wo den ganzen Tag originale Blasorchesterwerke gespielt werden (z. B. Flicorno d’Oro, das Deutsche Musikfest, und andere). Ich liebe es, die Komponisten zu fragen, an was sie gerade arbeiten. Ich liebe es bei Orchesterwochen mit großartigen Dirigent:innen mitzuspielen (kürzlich in Ossiach, demnächst wieder in Schladming beim WAWOP und im Herbst beim Benefiz-Projekt in Emmendingen). Ich liebe es, Repertoirebeiträge für den Blasmusikblog zu schreiben (dafür habe ich momentan leider nicht viel Zeit, kommt im Sommer aber wieder). Ich lasse mich gerne von neuen Werken überraschen, bin neugierig und immer auf der Suche. Das alles war schon immer so. Ich habe schon in der 10. Klasse ein Referat über Henk van Lijnschooten geschrieben. Das war so ungefähr im Jahr 1984…

Viele der Komponisten, die für uns schreiben, haben eine fundierte musikalische und kompositorische Ausbildung. Das ist die Voraussetzung für die Qualität, Originalität und Kreativität der Werke (meine Maßstäbe). Und ist das nicht wunderbar: Für alle Arten von Blasorchestern ist etwas dabei. Von den Kinderblasorchestern mit Anfängern über die goldene Mitte der Blasorchester, die in unteren, mittleren oder schwierigeren Leistungsstufen musizieren, bis hin zu den großen Blasorchestern, die auf semi-professionellem bis hin zu nahezu professionellem Niveau musizieren.
Sicher, es ist nicht ganz einfach, sich in der Flut der Werke, die in den letzten 50 Jahren weltweit explizit für Blasorchester entstanden sind, zurecht zu finden und immer auch die Neuerscheinungen zu sichten und auf dem Schirm zu haben. Klar, da ist viel Schrott dazwischen. Nicht jede Empfehlung, die Dirigent:innen untereinander geben, geschieht auf Basis der Qualität des Werkes. Manchmal sind da auch Aspekte ausschlaggebend, die mehr auf Freundschaft und Beziehung zum „Komponisten“ selbst basieren. Dirigierlehrer haben einen großen Einfluss auf ihre Dirigierschüler. Ich habe einen davon in einer Dirigentenfortbildung mal sagen hören (Wortlaut frei wiedergegeben): „Wenn Du wissen willst, was gute Werke sind: Alles, was ich gespielt habe, ist gut!“ Unter uns: Dieser Dirigent hat so extrem viele CDs mit seinem damaligen Orchester für De Haske aufgenommen… Das Repertoire an „guten Werken“ ist also rie-sen-groß *hahaha*…. Okay, hat er wohl auch nicht so ernst gemeint, als er das im Unterricht sagte… Er wollte sich wohl nur als den Guru darstellen, der genau weiß, was gute und was schlechte Musik ist.
Liebe Dirigentin, lieber Dirigent, es hilft nichts. Du musst Dich täglich in Sachen Blasorchesterrepertoire weiterbilden. Ständig sichten, hören, bewerten und für Dich archivieren. Und wie kannst Du das tun?
Das hat Gerhard Forman, der Landeskapellmeister von Niederösterreich, bei einem Morgenimpuls beim Österreichischen Blasmusik Forum 2024 so zusammengefasst:
- Bei renommierten Orchestern und Dirigenten nach Programmen schauen
- Austausch mit Dirigenten-Kollegen
- Zu Konzerten, Wertungsspielen und Wettbewerben gehen
- Liste von Pflicht- und Selbstwahlstücken. Beispielsweise auch Wettstückliste des SBV (Schweizer Blasmusikverband), Selbstwahlliste der BDMV (Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände), Programme von internationalen Wettbewerben wie z. B. des Flicorno d’oro, WMC – World Music Contest Kerkrade, Certamen de Bandas de Valencia, ECWO – European Championship for Wind Orchestra, u. ä.
- Konzertprogramme von internationalen Musikfestivals (MidEurope, MidWest, Innsbrucker Promenadenkonzerte)
- Austausch mit Komponisten
- Newsletter von Verlagen und Komponisten
- Fachzeitschriften: ÖBZ – Österreichische Blasmusikzeitung, Brawoo, Klankwijzer (Verbandzeitschrift KNMO, dem niederländischen Musikverband), Unisono (SBV – Schweizer Blasmusikverband), Crescendo, BiB – Blasmusik in Bayern, Die Blasmusik (BDB), usw. – teilweise online kostenfrei zu lesen!
- Websites: musicainfo.net, Blasmusikblog.com, Youtube, Scorestudies, Wind Band Literature von Andy Pease, WASBE.org Suggested Repertoire for Developing Bands und Composition of the Week, harmoniemusik.net, Datenbank Werke von Schweizer Komponisten (SBV), u. a.
- Das Archiv der Musikvereine
- Veranstaltungen von Blasmusikverbänden und -akademien: Fortbildungen, Dirigentenworkshops, Meisterkurse, Repertoirewochenenden, Orchesterwochen, Blasmusik-Forum Ossiach, Blasmusik-Symposium ASM, Spotlight Conducting Bozen, usw.
Sein Tipp: Eine eigene Liste mit Repertoire mit folgenden Parametern erstellen und fortführen: Zielpublikum, Konzert-/Auftrittsort, Rahmen, ev. Motto/Thema und die bibliographischen Angaben.
Das ist doch mal ein Plan, oder?
Egal, ob Du mehr so der Typ „stilles Kämmerlein“ bist oder Dich gerne direkt mit Menschen austauschst, Du kommst ans Ziel! Das Ziel heißt: „Umfassende Repertoirekenntnisse“. Aber bitte, gib Dir Mühe!

Ich sichte sehr viele Programme von Blasorchestern. Nicht nur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sondern auch in den Benelux-Staaten, den nord- und südeuropäischen Ländern und teilweise weltweit. Was mir tatsächlich auffällt, dass die meisten Programme im deutschsprachigen Europa wie Fruchtsalat sind – von jedem Etwas und zufällig zusammengeworfen – und dass immer und immer wieder die gleichen Werke draufstehen. Manchmal bin ich froh, dass überhaupt ein oder zwei Originalwerke für Blasorchester gespielt werden. Es wird ja immer schlimmer mit den Bearbeitungen aus Pop, Film und Show in den Programmen… Leute, seid Ihr nicht kreativer in Eurer Programmzusammenstellung als das zu nehmen, was täglich im Radio – in viel besserer Qualität, weil im Original – rauf und runter läuft? Könnt Ihr Eure Musiker:innen und Euer Publikum nicht anders begeistern?
Leider ist mir dieses Jahr in Riva beim Flicorno d’oro aufgefallen: Es wurden fast nur bewährte Werke als Selbstwahlstücke ausgewählt und kaum Werke z. B. von jungen Komponisten. Der jüngste Komponist, der in Riva aufgeführt wurde, ist Thiemo Kraas, und der ist mittlerweile auch schon 40… Von den Komponisten, die wir alle kennen, wurden nur ein paar wenige Werke gespielt, die sich am Markt durchgesetzt haben und die eigentlich jedes Jahr in Riva gespielt werden. Dabei haben diese Komponisten weit mehr gute Werke geschrieben. Einige Beispiele, damit Ihr wisst, was ich meine: Fate of the Gods und Pilatus von Steven Reineke, Alpina Saga von Thomas Doss, The Year of the Dragon von Philip Sparke, Ross Roy von Jacob de Haan oder Olympica von Jan Van der Roost. Kenner unter Euch wissen: das sind die älteren Werke dieser Komponisten. Als hätten sie seither nichts mehr Tolles geschrieben… Hier fehlt der Mut zu Neuem.
Das Schlimmste, was ein:e Dirigent:in einem Orchester (und dem Publikum) meiner Meinung nach antun kann, ist, zu schwere Werke unter dem Deckmäntelchen der „Herausforderung“ aufzulegen. Meist deswegen, weil sie es schon immer mal dirigieren wollten (Stichwort “Selbstverwirklichung”). Wenn gerade mal so die Technik von den Musiker:innen beim Konzert beherrscht wird, ist das meiner Meinung nach ein Totalversagen der Dirigentin/des Dirigenten. Ich denke dann immer: Bei leichteren Werken ist dieser Mensch vornedran offensichtlich nicht in der Lage, mit seinem Orchester tatsächlich berührende Musik entstehen zu lassen, die sowohl Musiker:innen als auch das Publikum mitreißt, begeistert, zum Lachen oder zum Weinen (im positiven Sinn) bringt (je nachdem…). Wahrscheinlich sind diese Personen vor dem Orchester vornedran nur in der Lage, Technik zu proben… aber nicht mal korrektes Zusammenspiel. Begleitet wird das Ganze mit Monologen zum Thema Üben – die Verantwortung des Nicht-Gelingens wird auf die mangelnde Übebereitschaft der Musiker:innen geschoben. Phrasierung, Stilistik, Dynamik, Balance, Klangausgleich, Klangqualität, Spielfreude: Fehlanzeige! Und das Üben von Intonation hört bei diesen Dirigent:innen mit dem Zücken des Stimmgerätes auf. Das hab ich mal beim Wertungsspiel beim Deutschen Musikfest in Osnabrück erlebt: Der Dirigent ist auf der Bühne mit dem Stimmgerät durch die Reihen gegangen, hat jedem Musiker gesagt, ob er zu hoch oder zu tief ist. Ich hab mich kaputtgelacht… Doch, halt: Ich werde schon wieder negativ! Es steht und fällt – neben dem Eigenengagement – alles mit der Ausbildung und der Kommunikationsfähigkeit der Dirigentin / des Dirigenten. Eines meiner Lieblingsthemen. Aber nicht das Thema dieses Beitrags, Alexandra!

Anfang April hatten zumindest die Dirigentinnen und Dirigenten in der Region Nürnberg die Gelegenheit sich mit mindestens 16 Komponisten zu treffen und ihre neuen Werke aus erster Hand kennenzulernen. Aber eigentlich war es erschreckend, wie wenige Dirigentinnen und Dirigenten dann tatsächlich bei uns am Stand waren und sich mit den Komponisten über Werke ausgetauscht haben – bedenkt man das Potential an möglichen Dirigent:innen im Nordbayerischen Musikbund, der 900 Mitgliedsvereine hat… Da müssten in zumutbarer Distanz ja nahezu 900 Dirigent:innen wohnen…
Okay, auch nicht allzu positiv… Wie kann ich Euch zum Schluss dieses Beitrags nun tatsächlich nochmals dafür begeistern, Euch Lust machen, neues Repertoire zu entdecken? Klar, kann ich Euch Ratschläge geben, wie z. B. „Verlasst Eure Komfortszene/Komfortzone!“, „Versucht beim nächsten Konzert Werke zu programmieren, die nicht schon von Blasorchestern im Radius von 50 Km gespielt wurden!“, „Geht raus aus Eurem stillen Kämmerlein und besucht Wertungsspiele, Wettbewerbe (auch international), andere Konzerte (auch weiter weg), Blasmusikfestivals (diejenigen, bei denen nicht nur „Halligallimusik“ gespielt wird), das Deutsche Musikfest in Ulm/Neu-Ulm, Fortbildungsveranstaltungen bei Euren und (!) bei anderen Blasmusikverbänden“, „Seid mutig!“, „Sucht das Neue, findet das Ungewöhnliche, überrascht Euer Publikum“, usw. Aber letztendlich kann ich Euch mit diesem Beitrag wohl nur zum Nachdenken (oder wenigstens zum Aufregen) anregen. Tätig werden musst Du, liebe Dirigentin, lieber Dirigent, schon selbst. Es wird sich für Dein Blasorchester und den Erfolg beim nächsten Konzert lohnen. Und für unsere ganze Blasmusik-Szene.
Ich hoffe, ich konnte Dir liebe Blasmusikblog-Leserin, lieber Blasmusikblog-Leser, ein wenig von meiner Liebe zur und meiner Lust an der originalen Blasorchester-Literatur in diesem Beitrag weitergeben. Schreib Deine Meinung gerne weiter unten auf dieser Seite ins Kommentarfeld.