Donnerstag, November 21, 2024
MusiklebenWettbewerbe

Wettbewerbe aus der Sicht eines Jurors: Ernst Oestreicher

Von einigen Blasmusikblog-Lesern kam der Wunsch, auch einmal die Sicht eines Jurors hier im Blasmusikblog.com zu veröffentlichen. Ich habe Ernst Oestreicher, den Jury-Vorsitzenden der Kategorie B.2 beim Deutschen Orchesterwettbewerb, über Wettbewerbe für Blasorchester allgemein und den Deutschen Orchesterwettbewerb im Besonderen befragt.

Welchen Stellenwert hat der Deutsche Orchesterwettbewerb jeweils innerhalb der deutschen und europäischen Wettbewerbs- und Wertungsspiel-Szene?

„Der Deutsche Orchesterwettbewerb hatte für mich schon immer einen ganz besonderen Stellenwert, vielleicht weil ich seit Beginn 1986 in Würzburg bei allen Wettbewerben aktiv dabei war, sowohl als Dirigent, Juror und in der konzeptionellen Vor- und Nachbereitung. Es ist einer der wenigen Wettbewerbe in Europa, der sich nicht nur auf einen Instrumentalbereich konzentriert, sondern alle bedeutsamen Ensembleformen miteinander verbindet. Es ist einer der wenigen Wettbewerbe, bei denen sich die teilnehmenden Orchester durch einen Vorentscheid auf Landesebene qualifizieren müssen. Es ist der einzige Wettbewerb meines Wissens, der auch einen Blick auf die unterschiedlichen orchestralen Entwicklungen in unserem Lande wirft.“

Wie bereiten Sie sich auf die Jury-Tätigkeit bei diesem wichtigen Wettbewerb vor, wie erhalten Sie sich Ihre Konzentration und Urteilsfähigkeit die Tage über?

„Nachdem ich schon einige Landeswettbewerbe als Juror miterleben durfte, bin ich quasi schon mittendrin. Ich habe die Pflichtwerke alle studiert und kenne diesbezüglich die Hürden und Schwierigkeiten. Ich habe mir den Zeitraum des Wettbewerbs komplett freigehalten, um mich ganz auf diesen einen Wettbewerb zu konzentrieren. Die beiden Wettbewerbstage sind anstrengend, wichtig ist dabei immer, dass einen nicht kurzfristig eine Erkältung aus der Bahn wirft, denn das beeinträchtigt dann schon sehr das Hören. Ansonsten gilt es, genug Schlaf zu haben.“

Nach welchen Richtlinien wird beim Deutschen Orchesterwettbewerb gewertet?

„Der DOW hat seine eigenen Wettbewerbsregeln, die aus dem Wettbewerb „Jugend musiziert“, der ja schon seit 1964 in der Bundesrepublik ausgetragen wird, hervorgegangen sind. Das ist zum einen, dass der Wettbewerb in insgesamt 15 Kategorien ausgespielt wird, er sich ausschließlich an nichtprofessionelle Orchester richtet ( es gibt eine umfangreiche Definition des Laienstatus in der Ausschreibung) und eine eigene Punktbewertung in Anlehnung an „Jugend musiziert“ mit 25 Punkten als Höchstpunktzahl gefordert wird. Hier müssen gerade wir Blasorchesterjuroren umdenken, die wir vor allem die 100 Punkte-Wertung kennen.“

Unabhängig von der Punktzahl: Wann ist für Sie ein Beitrag eines Orchesters ein gelungener Beitrag?

„Für mich persönlich ist es sehr wichtig, dass ein Orchester authentisch musiziert: Keine Kopie irgendeiner Aufnahme, sondern ein Vortrag, der eine individuelle Interpretation erahnen lässt, die sich aus der intensiven Beschäftigung mit der Partitur ergibt. Die musikalische Dramaturgie, der musikalische Fluss und die mitreißende Interpretation, das sind die Kriterien, die mir besonders wichtig sind. Dann sollte das Orchester klanglich gut geschult sein. Wenn alle im Saal, Musikerinnen und Musiker, Zuhörer, Dirigent und Jury im „Flow“ sind, das ist der Idealzustand, ein tolles Konzerterlebnis, das aber nur durch die wirklich intensive Beschäftigung mit der Musik über Monate hinweg erlebbar gemacht werden kann. Da darf auch einmal ein Tempo kurzzeitig verwackeln oder ein Spitzenton intonatorisch daneben sein. Natürlich muss die technische Ausführung grundsätzlich stimmen, sie ist die Grundlage für ein wirklich gelungenes Musikerlebnis, sollte aber nie das einzige Ziel sein, sondern das Fundament.“

Wettbewerbe und Wertungsspiele stehen regelmäßig im Nachgang in der Kritik. Wie gehen Verbände mit der Kritik einzelner Orchester bzw. mit Kritik an Wettbewerben und Wertungsspielen im Allgemeinen um?

„Leider werden Wettbewerbe von vielen falsch verstanden. Ein Orchester, das sich nicht entwickeln möchte, das seine Freude lediglich am Tun im Hier und Jetzt hat, braucht keinen Wettbewerb. Ein Orchester aber, das sich von Jahr zu Jahr immer stetig weiterentwickeln, das keinen Stillstand haben möchte, das sich definiert durch besondere musikalische Momente und Erlebnisse, das den besonderen emotionalen Reiz einer wirklich gelungenen Aufführung erleben möchte, wird sich einem Wettbewerb stellen.

Für die intensive Auseinandersetzung mit den Werken, für eine hohe Probenmotivation, für die Evaluierung der eigenen Qualität, für die Gewinnung des musikalischen Nachwuchses braucht es Wertungsspiele und Wettbewerbe. Gerade die Orchester, die sich regelmäßig diesen Aufgaben stellen, haben die wenigsten Nachwuchsprobleme und sind gesund. Woran mag das wohl liegen?

Das Lernen, mit Kritik umzugehen, die eigene Betriebsblindheit zu überwinden und nicht immer die Schuld bei den anderen zu suchen, das sind ja wichtige Lernprozesse für die Bewältigung des Lebens und gehören zu den Schlüsselkompetenzen menschlichen Zusammenlebens, leider können das auch viele Erwachsene nicht.

Wir werden in unserem Nordbayerischen Musikbund weiterhin nicht müde werden, Wertungsspiele anzubieten, auch wenn die Teilnehmerzahlen in den letzten Jahren zurückgegangen sind.“

Mit welchen Argumenten möchten Sie Orchester zur Teilnahme an Wertungsspielen und Wettbewerben bewegen / motivieren / begeistern?

„Ich habe ja gerade schon einige genannt:

  • Evaluierung und Feststellung des eigenen Leistungsvermögens
  • Anerkennung der Leistung anderer Orchester
  • Lernen von anderen Orchestern und Dirigenten
  • Intensive Beschäftigung mit einem zeitlich begrenzten Repertoire (die beiden Wettbewerbsstücke)
  • Konstruktive Kritik durch wirkliche Experten, die Erfahrung haben.
  • Begegnung mit vielen anderen Menschen, die ähnlich ticken wie wir.
  • Das Erlebnis des Siegens oder der Niederlage. Wie sehen Sieger aus? Wie werden wir ein nicht erwartetes Ergebnis verdauen.

Der Jubel nach dem Gewinn eines Wettbewerbs, das kennen nur diejenigen, die es erlebt haben. Das gilt ja auch für den Sport. Auch da haben dann die Mannschaftssportarten einen nicht zu überbietenden Reiz, im Orchester sind wir vielleicht 60 – 80 Musikerinnen und Musiker, die ein solches Erlebnis gemeinsam tragen.“

Was wünschen Sie sich für den Deutschen Orchesterwettbewerb und für alle zukünftigen Wettbewerbe und Wertungsspiele?

„Dass wir viel mehr Fairplay entwickeln, angefangen von der neidlosen Anerkennung der Leistung anderer, von der häufig unberechtigten Kritik an der Beurteilung durch die Juroren, vom Miesmachen der vermeintlichen Konkurrenz.

Vor allem aber, dass sich wieder viel mehr Orchesterleiter, Vereinsvorstände, Verbandsfunktionäre und Musikerinnen und Musiker bewusst werden, wie wichtig eine jährliche Überprüfung ihrer eigenen Qualität, eine klar definierte Zielsetzung im Verein und eine hochmotivierte Orchestergemeinschaft sind.

Wir sind es der Musik schuldig, dass wir uns bemühen, sie so klanglich darzubieten, dass sie Herz und Gemüt bewegen kann. Die Qualität des Musizierens deutscher Laienorchester dazustellen, das ist die Aufgabe des Deutschen Orchesterwettbewerbs. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam dies zu verwirklichen, als aktiv Musizierende, als Zuhörer und als Juror. Ich freue mich auf spannende Tage in Ulm!“

Über Ernst Oestreicher

Ernst Oestreicher ist seit März 1989 Schulleiter der Berufsfachschule für Musik Bad Königshofen. Er studierte an der Hochschule für Musik in Würzburg Lehramt für Musik am Gymnasium (Klavier bei Prof. Julian von Karolyi, Trompete bei Prof. Adolf Pfister) und Trompete (Prof. Helmut Erb) und an der Julius-Echter-Universität in Würzburg Musikwissenschaft (Prof. Osthoff). Examensarbeit: Zur Rekonstruktion mehrstimmiger Aufzüge und Sonaten des Hoftrompeterkorps im 17. Jahrhundert. Nach den beiden Lehramtsprüfungen in Musik, der Orchesterreife (Trompete) und der Diplommusiklehrerprüfung war er Studienrat am Gymnasium Bad Königshofen.
Der Laienmusik ist Oestreicher seit 1976 als Ausbilder und Dirigent eng verbunden. Er gründete das Jugendblasorchester Unterpleichfeld, später Symphonisches Blasorchester. 1988 war er Gründer und Dirigent des Nordbayerischen Jugendblasorchesters, ein Auswahlorchester des Nordbayerischen Musikbundes. 1988 wurde er zum Bundesdirigenten des Nordbayerischen Musikbundes gewählt und baute zwischen 1986 bis 1990 ein Ford- und Weiterbildungssystem für das bläserische Laienmusizieren und –dirigieren im Bayerischen Musikbund auf. Von 1987 bis heute ist er, zunächst als Mitglied des Arbeitskreises „Blasorchester“, später als Mitglied im Hauptausschuss am Aufbau des Deutschen Orchesterwettbewerbs maßgeblich beteiligt. Jurytätigkeiten bei bedeutenden Wettbewerben für Blasorchester führen ihn seit 1988 bis ins Ausland.Von 1998 bis 2001 war er Bundesmusikdirektor der BDBV und hatte in dieser Eigenschaft die musikalische Leitung des 3. Deutschen Bundesmusikfestes. Seit 1994 ist Oestreicher Mitglied des Kuratoriums der Bayerischen Musikakademie in Hammelburg, seit 2002 1. Vorsitzender des Kuratoriums. Seit 2003 hat er außerdem einen Sitz im Vorstand der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen.

Ein herzliches Dankeschön an Ernst Oestreicher für die Beantwortung der Fragen! 

Alexandra Link

Musik ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens. Musizierende Menschen zusammen zu bringen meine Leidenschaft.

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