36 Erkenntnisse erfahrener Dirigent:innen: Was ich als Anfänger gerne gewusst hätte – Teil 4
Erfahrungen, Tipps und wertvolle Ratschläge für junge Dirigent:innen von Karin Wäfler, Philipp Zink und Tobias Zinser
Nenne 3 Dinge, die Du als Anfänger im Dirigieren eines Blasorchesters bzw. eines Musikvereines gerne gewusst hättest,war die Aufgabe, die ich 12 verschiedenen Dirigent:innen aus Deutschland, der Schweiz und Südtirol gestellt habe. Im Hinterkopf hatte ich dabei, die Erfahrungen, die diese Dirigent:innen in ihrer Anfangszeit gemacht haben, können den jungen Dirigentinnen und Dirigenten, die noch am Anfang stehen, gerade erst ihre Dirigenten-Kurse absolviert haben und/oder gerade begonnen haben einen Musikverein zu dirigieren, nützlich sein.
Die Aufgabenstellung war etwas schwierig, deshalb habe ich sie wie folgt ergänzt: Bei der Fragestellung geht es darum, welche Fehler man beispielsweise gemacht hat, welche Erwartungen man hatte die nicht eingetroffen sind, welche Schwierigkeiten, mit denen man nicht gerechnet hat, usw…
Daraufhin habe ich 12 wirklich hervorragende Beiträge mit jeweils drei Dingen von den erfahrenen Dirigentinnen und Dirigenten erhalten, die alles beinhalten, was Anfänger tatsächlich wissen, lernen und beachten müssen. Mehr noch: Diejenigen, die Dirigierkurse und Dirigier-Workshops konzipieren erhalten jede Menge Informationen darüber, was in der Aus- und Fortbildung dringend fehlt – der Aus- und Fortbildungs-Wille der Dirigentinnen und Dirigenten vorausgesetzt…
Diese 12 Beiträge sind teilweise sehr lang und informationsreich, deshalb habe ich sie in vier Blasmusikblog-Beiträge nach Namensalphabet eingeteilt:
Teil 1: Andreas Büchel, Katarzyna Bolardt, René Esser
Teil 2: Isabel Gonzales Villar, Klaus Gottschall, Evelyn Kessel,
Teil 3: Sigisbert Mutschlechner, Andrea Kürten, Klaus Wachter,
Teil 4: Karin Wäfler, Philipp Zink, Tobias Zinser
Karin Wäfler
Dirigentin der Musikgesellschaft St. Urban, der Feldmusik Triengen und der Stadtmusik Dübendorf (Projektdirigentin).
Da ich im Alter von 20 Jahren einen Musikverein als Dirigentin übernommen habe, gehe ich für dieses Round Up gedanklich in diese Zeit zurück. Ich hatte damals den zweiten von insgesamt drei Dirigentenkursen bei einem Blasmusikverband in der Schweiz abgeschlossen. Zu dieser Zeit hatte ich mehrere Jahre in einem 1. Klasse-Blasorchester mitgespielt und habe ein paar Tätigkeiten als Aushilfe wahrgenommen. Die Aufnahmeprüfung für das Studium an der Musikhochschule stand unmittelbar bevor.
Dirigieren ist wie Hochleistungssport
Etwas vom Wichtigsten auf dem Weg zum „Dirigent:in-Sein“ ist für mich, dass man – nach den ersten Kursen und Ausbildungen – wirklich dabeibleibt und möglichst viel Praxiserfahrung sammelt. Das Dirigieren während dem Unterricht ist das eine – das effektive Proben vor dem Orchester das andere. Während am Anfang relativ schnell Entwicklungen spürbar sind, geht dieser Prozess – zumindest bei mir – je länger ich dirigiere – langsamer voran – oder es kommt mir zumindest so vor. Ein Spitzensportler muss ebenfalls sehr viel Training investieren, um seine Leistung um wenige Hundertstel zu verbessern. Bei mir verhält es sich ähnlich. Im jetzigen Stadium investiere ich viele unterschiedliche Mittel (sei es Zeit, Willen, Energie und Geld) in meine persönliche Entwicklung – sei es fachlich (z.B. Meisterkurse, private Coachings bei Fachpersonen) oder in der persönlichen Entwicklung (z.B. Kinesiologie, Training in Bezug auf Auftrittskompetenz, Autorität, Durchsetzungsvermögen, etc.). Eine weitere Gemeinsamkeit im Dirigieren mit dem Hochleistungssport ist in gewissen Massen bei mir auch der Leistungsdruck – den ich mir zwar zu grössten Teilen selbst mache. Trotzdem kann dies ein hindernder Faktor sein – mit dem ich mich auseinandersetzen, und lernen muss, damit umzugehen.
Der Faktor Mensch
Zu vielen Musikern, welche in meinen Orchestern spielen, habe ich ein kollegiales/freundschaftliches Verhältnis. Zu fast allen Orchestern, wo ich mal dirigiert habe, pflege ich bis heute noch Kontakt. Dies ist eine enorme Bereicherung. Allerdings musste ich auch erfahren, dass ich manchmal Entscheidungen – im Sinne der Musik – treffen muss, welche möglicherweise nicht für alle Personen schlüssig oder nachvollziehbar sind. Dies kann – bei ungenügender Kommunikation zu herausfordernden Situationen führen. Diese gilt es im Vorhinein zu umgehen – was Fingerspitzengefühl und Erfahrung voraussetzt.
Man ist nie ausgelernt
Dass man mit der Zeit bei der Bearbeitung und dem Einrichten der Partituren effizienter vorgeht oder auch den einen oder anderen „Trick“ kennt, um in einem bestimmten Bereich ein Orchester zeitnah voranzubringen, ist Routine- und Übungssache. Allerdings gilt es immer wieder, die „Botschaft zwischen den Zeilen“ zu lesen. Die vorhin erwähnte Trickkiste oder das „Repertoire“ an möglichen Rückmeldungen an das Orchester ist stetig zu erweitern. Weiter gilt es, sich selbst immer wieder zu reflektieren. Sei es sich selbst als Mensch, die Probearbeit oder das eigene Dirigat. Hierbei ziehe ich immer wieder (Fach)-Leute aus meinem Umfeld hinzu. Leute, die ehrlich sind und Interesse daran haben gemeinsam zu arbeiten, voranzukommen und sich auch trauen, mir wirklich den Spiegel vorzuhalten. Dies kann in ganz unterschiedlichen Bereichen sein: Mal rein musikalisch, mal geht es um Auftrittskompetenz (vor dem Orchester oder vor Publikum), mal geht es darum, sich auch einfach mit anderen Dirigent:innen auszutauschen (Liste nicht abschliessend; weitere Punkte in den oberen Abschnitten dieses Textes). Manchmal tut auch einfach ein Gespräch „unter Dirigenten“ gut.
Philipp Zink
Dirigent der Musikvereine aus Wolfartsweier (Karlsruhe) und Bauschlott (Pforzheim-Enzkreis). Leiter der Musikschule Waghäusel-Hambrücken und Dirigent des dortigen Sinfonieorchesters. Vorsitzender der Musikschulregion Mittlerer Oberrhein im Landesverband der Musikschulen Baden-Württemberg und Verbandsdirigent im Blasmusikverband Karlsruhe.
Die Herausforderungen durch Diversität innerhalb des Orchesters
Als junger Dirigent ist man stark geprägt von seinem Heimatverein und verschiedenen Orchestern, in denen man als Musiker bereits mitwirken durfte. Oft sind das wie in meinem Fall ambitionierte Vereinsorchester, Projekt- und Auswahlorchester. Ein Merkmal dieser Orchester war neben der musikalischen Qualität eine gewisse Homogenität in der Zusammensetzung der Musikerinnen und Musiker. Die allermeisten waren aus ein und demselben Grund Mitglied im Orchester, nämlich, um anspruchsvolle und hochwertige Musik zu machen. Auch bei meinem Heimatorchester wurde stets versucht, ein hohes musikalisches Niveau zu erreichen oder zu halten. Bei meinen ersten Gehversuchen als Dirigent von Blasorchestern musste ich jedoch feststellen, dass sich Orchestermusikerinnen und -musiker oder auch Vorstandsteams nicht immer einig darüber sind, wohin es mit dem Orchester auf lange Sicht hin gehen soll, welche Stücke gespielt werden sollen, wie der Dirigent sein soll. Auch heute spüre ich in Orchestern, welche ich leiten darf, solche Schwierigkeiten und stoße hierbei immer wieder auf große Herausforderungen. Wie kann ich einen heterogenen Haufen an Menschen mit völlig unterschiedlichen Leistungsniveaus und noch viel unterschiedlicheren Vorstellungen der musikalischen Arbeit und inhaltlichen Ausrichtung eines Orchesters vereinen und zusammenbringen? Mittlerweile kann ich in der Regel mit solchen Situationen sehr gut umgehen, habe Lösungsansätze parat, sehe mich als Vermittler und auch Vertreter wertvoller Inhalte und einer nachhaltigen Probenarbeit. Früher war das anders. Als junger Dirigent, teils übermotiviert und vielleicht auch etwas zu viel von sich selbst überzeugt, gerät man schnell an Grenzen oder schafft es nicht, Verhärtungen zwischen den Orchestermitgliedern abzubauen. Und hierauf wäre ich gerne vorbereitet worden. Trotz zahlreicher Dirigierfortbildungen und meiner anschließenden Dirigierstudien kann ich bis heute nicht davon sprechen, dass ich jemals ausreichend und vor allem methodisch auf diese Unterschiedlichkeiten und daraus resultierenden Problemstellungen vorbereitet worden wäre.
Die Wechselwirkung zwischen Orchester und Publikum
Ein Publikum zufrieden zu stellen, das ist nicht immer einfach. Musikalische Geschmäcker und Vorstellungen in der Umsetzung von Konzerten sind eben verschieden und das weiß man auch. Ebenso verhält es sich mit den Orchestern, wie eingangs beschrieben. Doch die Wechselwirkung dieser beiden Personengruppen und die daraus resultierenden Herausforderungen, bzw. Chancen, waren mir als junger Dirigent nicht weit genug bekannt, um sie von Beginn an nutzen zu können. Hierbei spielen aus meiner Sicht drei wesentliche Faktoren eine wichtige Rolle, zu welchen ich zu Beginn meiner Dirigentenlaufbahn leider nicht geschult wurde. Heute habe ich mich aus meiner Erfahrung heraus viel damit befasst und kann bei meinen Musikerinnen und Musikern diesbezüglich ein positives Bewusstsein schaffen. Die drei Faktoren sind:
1. Wie präsentiere ich mich als Orchester?
Oft verkannt wird die Wirkung eines Orchesters auf das Publikum während des Musizierens, d.h. während der Zeit auf der Bühne. Optische Einheitlichkeit repräsentieren eine Geschlossenheit der Gruppe, ein Teamgefühl, ohne, dass dieses bereits real existieren müsste. Dazu gehört das gleiche und „professionelle“ Verhalten auf der Bühne. Das Wasserlassen in Generalpausen, das Reden zwischen zwei Konzertstücken, das Lachen über, bzw. Anmerken lassen von Fehlern – all das lenkt das Publikum von der Musik ab und hin zu außermusikalischen Vorgängen, die man ja gar nicht sehen oder hören möchte. Eine Klarheit und Stringenz in der „professionellen“ Darstellung eines Orchesters durch sich selbst schafft beim Publikum Bewunderung, Respekt, Staunen und mitunter Ehrfurcht.
2. Wie stelle ich als Orchestermitglied mein Orchester nach außen hin dar?
Die Art und Weise, wie Musikerinnen und Musiker über ihr eigenes Orchester in der Öffentlichkeit reden, entspricht oft nicht der Realität. Gerne werden zeitgenössische Werke als zu modern angekündigt, die Leistung des Orchesters in Abrede gestellt. Aber auch das Gegenteil kann passieren und das eigene Orchester und dessen Leistung wird mit der eines professionellen Orchester gleichgestellt. Je nach Adressaten dieser Aussagen kann sich bei den späteren Zuhörerinnen und Zuhörern ein negatives Gefühl aufbauen, welches im Konzert Bestätigung sucht und in der Regel auch in irgendwelchen Details bestätigt wird. Oder aber die Zuhörerinnen und Zuhörer kommen mit der größten Erwartungshaltung ins Konzert und werden dann mit der Realität und einem ganz anderen Niveau, als erwartet, konfrontiert. Diese Effekte kann man aber gewinnbringend für sich nutzen, wenn man es schafft, die Musikerinnen und Musiker hierüber zu sensibilisieren und ein Bewusstsein dessen zu schaffen. Dieses Werkzeug der verbalen Darstellung eigener Leistungen und Inhalte kann vermittelt werden, jedoch muss ich als Dirigent den Umgang damit erlernen. Das geschieht in der Regel erst durch langjährige Erfahrung.
3. Wie erziehe ich mir mein eigenes Publikum?
Wir alle kennen die Situation, dass scheinbar perfekte Programme, welche womöglich auch beim Orchester entsprechend gut ankommen, vom Publikum zum Teil vehement abgelehnt werden. Vor allem ist dies oft bei Dirigentenwechseln festzustellen. Hier zeigt sich häufig, wie sehr das (Stamm)Publikum zu einem bestimmten Musikgeschmack (unwissentlich) herangezogen wurde. Diesen Geschmack im Interesse des Dirigenten und unter Umständen auch im Interesse des Vereines zu ändern, kann mitunter als unmöglich erscheinen. Hier bedarf es gezielter Konzertideen, einer begeisternden Moderation, einer überzeugenden Präsentation und vor allem einer guten Programmstrategie. Und über diese werden Dirigenten meines Erachtens zu wenig geschult. Selbstverständlich geben Dozenten einen wunderbaren Einblick in den eigenen Programmgeschmack, schulen das Verständnis für didaktisch fundierte Programme – doch oft nicht im Hinblick auf ein Blasorchesterpublikum, welches hierauf nicht vorbereitet ist. Mit dieser Problemstellung sollte man junge, musikalisch gut ausgebildete Dirigenten, nicht unvorbereitet auf einen traditionsreichen Verein loslassen.
Außermusikalische Aufgaben und deren Notwendigkeit
Was muss ein Dirigent eigentlich alles tun? Wer bestimmt das und wo darf und sollte gerade ein junger Dirigent bewusst Grenzen setzen? Als musikalischer Leiter sind Dirigenten hauptsächlich für das musikalische Endergebnis verantwortlich, aber auch für alles, was innerhalb eines musikalischen Vortrages oder Konzertes passiert? Muss ein Dirigent aus Sicht der Vereine in der Lage sein, die Moderation zu übernehmen? Und falls nein, sollte er verpflichtet werden können, diese zu schreiben? Kann von einem Dirigenten erwartet werden, dass er Anwesenheitslisten pflegt, Entschuldigungen entgegennimmt und dokumentiert? Inwieweit muss er organisatorische Abläufe und Aufgaben hinsichtlich der Veranstaltungsplanung übernehmen oder anleiten? Zählt die Absprache mit beispielsweise Tontechnikern im Vorfeld sinnigerweise oft noch dazu, ist die Absprache mit dem Hausmeisterteam des Veranstaltungsortes nicht mehr selbstverständlich aber eventuell notwendig oder einfach nur wertschätzend für das Team vor Ort?! Wie sieht es mit GEMA-Listen aus und der Bestellung und dem Verwalten der Noten? Was, wenn der Dirigent eigene Partituren einrichten möchte? Muss er sich diese dann auf eigene Kosten bestellen? Die Aufzählung könnte wahrscheinlich sehr viel weitergeführt werden und jeder Leserin, bzw. jedem Leser fallen mindestens noch eine Handvoll weiterer schon einmal fraglicher Aufgaben ein. Hierüber, d.h. über die Anforderungen des Arbeitsfeldes eines Dirigenten bei einem Vereinsorchester, wird während der Ausbildung systematisch zu wenig gesprochen – höchstens vielleicht nach den Seminaren abends beim gemeinsamen Ausklang. Diese strittigen Punkte sorgen zu Beginn einer Dirigentenlaufbahn oftmals für Verunsicherung und gelegentlich auch mal Frust. Das kann vermieden werden, wenn junge Dirigenten frühzeitig dazu ermutigt werden, sich im Austausch mit anderen eine klare Vorstellung des eigenen Arbeitsfeldes zu machen und mit dieser Vorstellung an die Vereine herantreten können.
Tobias Zinser
Dirigent der Stadtkapelle Wangen und der Kreisjugendmusikkapelle Biberach
Als ich die Anfrage bekam, ob mir zu diesem Thema passende, interessante, hilfreiche Dinge präsent sind, dachte ich zunächst, dass ich dazu nicht unbedingt der passende Adressat bin.
Ich bin nun schon viele Jahre als Dirigent tätig und meine Anfänge liegen doch schon relativ weit zurück. Allerdings hat mich die Nachricht von Alexandra Link dennoch weiter beschäftigt und ich habe darüber nachgedacht, was es denn tatsächlich bedeutet, ein Orchester zu leiten und was auf einen Dirigenten so alles zukommen kann. Überraschenderweise sind mir mehr Aspekte eingefallen, als ich zuerst gedacht hätte. Ich würde da auch gar nicht von “Fehlern” reden wollen, die ich gemacht habe und gerne vermieden hätte, sondern von Anforderungen, Erwartungen, Aufgaben, die auf einen jungen Dirigenten warten und denen man gerecht werden sollte. Und, dass man viel mehr im Fokus, vor allem seiner Musikerinnen und Musiker steht, als einem vielleicht bewusst ist, wenn man dieses Amt als Dirigentin oder Dirigent anstrebt oder antritt.
Nach längerem Überlegen habe ich diese 3 Punkte ausgewählt:
Vorbereitung
Je länger ich im „Geschäft“ bin, desto besser versuche ich mich auf die Proben, die Auftritte und Konzerte vorzubereiten und investiere immer mehr Zeit in die Programmauswahl. Darüber hinaus nehme ich mir mehr Zeit, die Partituren einzurichten und zu studieren. Die Proben sind viel effektiver und fruchtbarer, wenn die Leiterin oder der Leiter einen klaren Plan hat. Natürlich sind Proben auch dazu da, etwas auszuprobieren, mal andere Tempi zu wählen, an der Dynamikschraube zu drehen oder an der Artikulation zu feilen. Aber es ist notwendig mit einer klaren Vorstellung in die Proben zu gehen: Was und vor allem wie möchte ich proben? Was möchten wir heute gemeinsam erreichen?
Die Probe braucht eine Konzeption und eine vernünftige Struktur.
Dazu ist es wichtig vorab zu überlegen, wann man welche Stücke proben möchte und wieviel Zeit man dafür investieren will. Das wiederum ist notwendig, damit gegebenenfalls die Literatur dazu bereitgestellt werden kann.
Und das Ganze gilt genauso für das eigene Dirigat: Bin ich mir im Klaren, wie das Schlagbild funktioniert? Wie ich die Übergänge dirigieren und gestalten möchte? Welches Tempo ist passend und richtig für uns?
Natürlich geht nicht jeder Plan auf, nicht jede Idee funktioniert und manche Wünsche lassen sich nicht umsetzen. Oft scheitert der Plan schon daran, dass plötzlich nur ein Schlagzeuger in der Probe sitzt, die Edelhölzer erkrankt oder alle Flöten verhindert sind. Dann muss unter Umständen umdisponiert und andere Stücke geprobt werden oder man muss den Schwerpunkt der Probe anders setzen.
Je besser man allerdings auf die Proben vorbereitet ist, desto leichter fällt es aber auch, in solchen Fällen zu improvisieren und trotzdem vernünftig und produktiv zu arbeiten. Es ist auch kein Problem, wenn manche Dinge, die man sich zurechtgelegt hat, mal nicht funktionieren, ein Übergang doch anders dirigiert werden muss oder sogar mal ein Stück ausgewechselt wird, weil es doch nicht den gewünschten Effekt erzielt oder vielleicht sogar zu schwierig ist.
Auf jeden Fall gilt es zu verhindern, dass die Leiterin oder der Leiter der Bremsklotz ist. Sie oder er sollte seinen Musikerinnen und Musikern wenn möglich immer mindestens einen Schritt voraus sein. Je besser ich die Partitur kenne, je sicherer und selbstverständlicher mein Dirigat ist, desto besser kann ich mich auf mein Orchester konzentrieren, genauer hinhören und reflektieren.
Der Dirigent als Pädagoge
Der bekannte amerikanische Komponist und Dirigent James Barnes hat in einem Gespräch zu mir gesagt: „Maestro in Italian means teacher“, „Maestro bedeutet auf italienisch Lehrer“.
Dieses Zitat finde ich unglaublich wertvoll und treffend. Es beschreibt den Auftrag, den wir als Leiterinnen oder Leiter eines Orchesters haben. Die Aufgabe ist es, das zu vermitteln, was in der Partitur steht, Hilfestellungen und Anregungen zu geben, an Klang, Intonation und Ausgewogenheit zu arbeiten und wenn möglich das Orchester weiterzuentwickeln und zu verbessern — die Musikerinnen und Musiker auf das nächste gemeinsame Ziel vorzubereiten und durch die Probenarbeit und die Programmauswahl zu motivieren. Dabei stehen nicht die Wünsche des Dirigenten im Mittelpunkt, sondern die Notwendigkeiten und Bedürfnisse des Ensembles.
Es geht nicht darum, ein Podium für den Dirigenten zu schaffen, sondern seiner Kapelle gerecht zu werden. Das gilt sowohl für die Programm-Auswahl, die Probenarbeit als auch für die Auftritte.
Natürlich soll der Dirigent Pläne und Visionen haben, und seine Vorstellungen, Wünsche und Ideen einbringen. Aber er sollte nun mal, „der erste Diener des Orchesters sein“.
Die Proben sind dann am effektivsten, wenn man ein konkretes Ziel vor Augen hat, also für einen Auftritt, ein Konzert oder Wettbewerb probt. Das bedeutet, es ist notwendig, Ziele zu definieren.
Die Arbeit mit dem Orchester darf sich nicht auf das Durchspielen der Stücke beschränken oder mit dem Stimmgerät zu hantieren. Wichtig sind gezielte, auch methodische Hilfestellungen und Hinweise, wie eine Stelle gespielt, was verbessert und verändert werden soll. Exemplarisch kann eine Passage dann auch erarbeitet werden, um zu verdeutlichen, wie diese dann zu Hause geübt und verbessert werden kann. Jeder sollte mit der Gewissheit nach Hause gehen, dass sich in der Probe was bewegt und verbessert hat. Für die Motivation ist es grundsätzlich wichtig, Erfolgserlebnisse zu schaffen und nicht zu vergessen, nicht nur zu kritisieren und zu verbessern, sondern auch positiv zu reflektieren und zu loben.
Zufälligerweise habe ich heute einen verdienten ehemaligen Bezirksdirigenten getroffen, der die Arbeit seines Nachfolgers mit den Worten lobte, dass er einfach ein Pädagoge sei, der toll erklären könne, was er wolle.
Dazu ist fachliche und soziale Kompetenz sowie das adäquate Vokabular notwendig — mit der fachlichen und sozialen Kompetenz erhält man automatisch auch die erforderliche Autorität.
Aber — das bedeutet natürlich nicht, dass man als Meister vom Himmel fällt und keine Fehler machen, sich täuschen oder auch mal „verpinseln“ darf. Das ist alles kein Problem.
Ein Lehrender ist immer auch ein Lernender, eine Wechselbeziehung, von der beide Seiten profitieren können und sollten. Gerade den jungen Dirigierenden bietet sich die Chance, gemeinsam mit der Kapelle Schritt für Schritt zu wachsen und zu reifen. Dazu müssen aber auch die Musikerinnen und Musiker bereit sein.
Sir Adrian Boult schreibt in seinem Buch „Das Geheimnis der Taktstockspitze“: „Die Bereitschaft Meinungen anderer Menschen anzunehmen, gehört als wesentlicher Bestandteil zur Entwicklung eines Dirigenten“. Oder auch die Worte von John Cotton Dana: “Somebody, who dares to teach, must never stop to learn“— “Jemand, der es wagt zu unterrichten, darf niemals aufhören zu lernen.”.
Diese beiden Zitate finde ich für die Aufgabe als Dirigent sehr treffend und hilfreich.
Die Vorbildfunktion des Dirigenten
Wie bereits zu Beginn erwähnt, stehen die Dirigentin oder der Dirigent mehr im Fokus und unter Beobachtung, als es vielleicht zu erwarten wäre. Da geht es auch um Dinge, die weit über das Musikalische hinausgehen, z.B. die Art des Umganges und der Kommunikation, den kleinen Macken oder Eigenheiten, sogar der Kleidung. Erst kürzlich hatte ich ein Gespräch, bei der sich eine Musikerin über die mangelnde Wertschätzung eines Dirigenten bekIagt hat. Eine andere hat erzählt, dass ihr Dirigent im Orchester Lieblinge habe, andere aber völlig ignoriere.
Ich habe ein paar Eigenschaften zusammengetragen, die sicherlich hilfreich sein und eine Dirigentenpersönlichkeit auszeichnen können:
- Der Dirigent sollte das selbst vorleben, was er von seinen Musikerinnen und Musikern verlangt und erwartet. (Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Empathie und Respekt)
- Geduld ist eine ganz wichtige Eigenschaft.
- Die Bereitschaft, sich selber kritisch zu beobachten, sich weiterzuentwickeln, für Neues offen zu sein und dazuzulernen.
Arturo Toscanini war schon in seinen 60er-Jahren, als er zu seinem Dirigenten-Kollegen Fritz Busch nach einem Konzert in der Mailänder Scala gesagt hat:
„Ist es nicht traurig, dass ich, obwohl ich schon über ein Menschenalter dirigiere, erst jetzt beginne zu verstehen, wie man es machen muss“.
Nun gilt Toscanini als einer der bedeutendsten Dirigenten überhaupt und er hatte zu diesem Zeitpunkt mit den führenden Orchestern der Welt gearbeitet. Trotzdem zeigt dieses Zitat, dass man niemals „fertig“ ist und nicht aufhören darf, sich weiterzubilden und weiterzuentwickeln.
- Seinen Musikerinnen und Musikern wertschätzend, freundlich und fair zu begegnen. Sir Adrian Boult schreibt dazu: „Viele Leute glauben, es gehöre zu einem Dirigenten, bei einer Probe aus der Fassung zu geraten. Dieser Meinung kann ich absolut nicht beipflichten. Ein Dirigent, dem es an Selbstbeherrschung fehlt, darf sich niemals anmaßen, andere Menschen leiten zu wollen.“
- Keine unnötigen Eitelkeiten — die Musik, das Orchester, die Kinder oder Jugendlichen stehen im Mittelpunkt, nicht die Dirigentin oder der Dirigent.
- Authentizität: Ein Mensch ist dann am leitungsfähigsten, wenn er authentisch ist.
- Autorität entsteht durch fachliche, soziale und pädagogische Kompetenz, durch Engagement und Zuverlässigkeit.
- Allen seinen Musikerinnen und Musikern die nötige Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegen zu bringen.
- Echte Freude am Umgang mit den Menschen und Liebe zur Musik.
Es gäbe dazu noch einige andere Punkte aufzuzählen, aber das sind für mich momentan die wichtigsten.
Alle meine Gedanken bedeuten keineswegs, dass mir das selber immer gelingt; dass mir keine Fehler und Unzulänglichkeiten unterlaufen; dass ich jederzeit jedem Einzelnen gerecht werden kann oder jederzeit optimal vorbereitet bin und richtig und angemessen reagiere. Allerdings lohnt es sich, sich diese Punkte immer mal wieder bewusst zu machen und sein eigenes Tun und Handeln zu hinterfragen und zu reflektieren. Diese Punkte bespreche ich auch grundsätzlich mit meinen Dirigier-Schülerinnen und -Schülern. Sie waren auch stets ein wichtiges Thema in meinen Methodik-Didaktik-Seminaren an der Musikhochschule in Trossingen.
Wenn nun ein interessierter junger Mensch meinen Beitrag liest, soll ihn das auf gar keinen Fall abschrecken, sich dieser Aufgabe zu stellen. Ganz im Gegenteil: Als Dirigentin oder Dirigent hat man viele Möglichkeiten zu gestalten, Projekte zu entwickeln und gemeinsam mit anderen Menschen etwas Besonderes zu schaffen. Aber dazu braucht es auch engagierte und interessierte junge Leute, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Unsere Gesellschaft braucht diese Begeisterung und dieses Engagement, damit unsere Musikvereine und Orchester auch Nachwuchs generieren und überleben können. Besonders bei Kindern oder Jugendlichen ist die Dirigentin oder der Dirigent oft eine wichtige Bezugsperson und Vorbild. Diese jungen Menschen sind begeisterungsfähig und geben einem wahnsinnig viel zurück.
Ronald Johnson, ein renommierter amerikanischer Dirigent, hat sich bei einem Besuch in Wangen im Allgäu begeistert darüber gezeigt, dass sich in unseren Vereinen, über Altersgrenzen hinweg, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Arbeitende, Selbstständige, Angestellte, Akademiker etc. treffen, um gemeinsam Musik zu machen. Er war überzeugt davon, wie sehr unsere Gesellschaft davon profitiere, Verständnis füreinander entstehe und der soziale Frieden bewahrt bliebe.
Ein Ensemble, Vororchester, Jugendkapelle, Musikverein oder ein großes Orchester zu leiten, ist eine wertvolle, wichtige, interessante, spannende und erfüllende Aufgabe.
Junge, talentierte und engagierte Dirigentinnen und Dirigenten werden dringend gebraucht — also, los geht´s.
Die vier Teile dieser Round-Up-Serie zum Thema „Was ich als Anfänger gerne gewusst hätte“ im Überblick:
Teil 1: Andreas Büchel, Katarzyna Bolardt, René Esser
Teil 2: Isabel Gonzales Villar, Klaus Gottschall, Evelyn Kessel
Teil 3: Sigisbert Mutschlechner, Andrea Kürten, Klaus Wachter
Teil 4: Karin Wäfler, Philip Zink, Tobias Zinser