Kann man dirigieren lernen? Kann man dirigieren lehren?
Zwei spannende Fragen, die ich in diesem Round-Up-Post* verschiedenen Dirigenten in Deutschland, Österreich, Südtirol und der Schweiz gestellt habe. Zu Wort kommen Oberleutnant Gernot Haidegger (Kapellmeister Militärmusik Oberösterreich und Musikverein Würmla), Felix Hauswirth (Hochschule für Musik Basel), Dominik M. Koch (2. Musikoffizier und stellvertretender Leiter beim Heeresmusikkorps Ulm, Dirigent des Musikvereins Mühlhausen, der Stadtkapelle Hockenheim und der Badischen Brass Band), Daniel Niederegger (Dirigent Pater Haspinger Musikkapelle St.Martin/Gsies, Musikkapelle St. Jakob, im Verband Südtiroler Musikkapellen VSM Bezirkskapellmeister-Stellvertreter im VSM), Miriam Raspe (Dirigentin Stadtkapelle Trossingen, Musikverein Unterkirnach, Master-Studentin in Trossingen), Prof. Walter Ratzek (Konservatorium Claudio Monteverdi Bozen) und Prof. Ernst Oestreicher (u. a. Hochschule für Musik Würzburg).
Gernot Haidegger
Kann man Dirigieren lernen? Kann man Dirigieren lehren?
Warum nicht? Ich bin der Meinung, dass man alles lernen bzw. lehren kann, wenn man das nötige Know-how hat. In Oberösterreich steht uns eine gute Dirigent*innenausbildung zur Verfügung, die Landesmusikschule bietet mit den EBO-Kursen (Ensembleleitung Blasorcheter) perfekte Bedingungen für Arbeit auf professionellem Niveau – hier wurde von Thomas Doss, Fritz Neuböck etc. tolle Pionierarbeit geleistet. Weiters bietet die Bläserakademie des Oberösterreichischen Blasmusikverbandes ein Dirigent*innen- und Orchestercoaching an. Wir, die Militärmusik Oberösterreich, stehen bei verschieden Kursen auch immer gerne als Lehrorchester für Dirigent*innen zur Verfügung, sei es auf der MIDEUROPE in Schladming oder am österreichischen Blasmusikforum an der Carinthischen Musikakademie im Stift Ossiach.
Für mich persönlich gibt es beim Dirigieren kein „technisch richtig“. Jedoch finde ich, dass man als Dirigent*in gewisse Basics beherrschen und ausbauen sollte. Meines Wissens ging Egon Schiele bei Gustav Klimt in die Schule und dieser sagte zum hochbegabten jungen Schiele: „Zuerst malst du das Haus so, wie ich das will, und dann malst du es so, wie du es willst.“ Nach dem Erlernen einer soliden Technik, darf und soll man aber auch immer wieder etwas Neues ausprobieren und schauen, was gut funktioniert. So sehe ich das auch beim Dirigieren lernen: die Kolleg*innen aufmerksam beobachten, gewisse Techniken übernehmen, selber ausprobieren. Als hilfreich empfinde ich es, für jede Standardsituation drei oder vier verschiedene Ausführungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben und sie im Bedarfsfall einsetzen zu können.
Bei jungen Dirigent*innen sehe ich immer wieder, dass sie gerne sehr früh ein D- oder E-wertiges Stück (Anm. AL Grad 4-5/6) dirigieren möchten, aber etwa mit der Schubert-Messe überfordert sind. Hier liegt es an den Lehrenden, gemeinsam mit ihren Schüler*innen step by step in der Entwicklung als Dirigent*in weiterzugehen und Fortschritte zu machen.
Für manche ist auch der Unterschied zwischen Dirigieren und Taktieren schwer zu greifen. Schon der österreichisch-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick stellte fest: „Man kann man nicht nicht kommunizieren!“ Das trifft besonders auch auf Dirigent*innen zu. Es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich mein Orchester bei Meisterkursen klingt, obwohl stets dasselbe Stück aufliegt und nur der Dirigent bzw. die Dirigentin wechselte. Diese unterschiedlichen Interpretationen machen das Erleben der Musik aber umso interessanter.
Für die Weiterentwicklung als Dirigent*in wünsche ich allen Kolleg*innen ein Orchester für die Probenarbeit. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Bedeutung der Probenpädagogik hinweisen und die notwendige intensive Auseinandersetzung mit der Partitur im Vorfeld betonen. Meine Klangvorstellung und eine Idee, wie ich diese am besten vermitteln kann, sind zwei wesentliche Eckpfeiler einer gelungenen Probenvorbereitung, denn als Dirigent muss ich im Vorhinein wissen, was in der Probe bzw. bei der Aufführung passieren soll.
Schlussendlich muss uns Dirigent*innen bewusst sein, dass wir mit unserem Orchester für das Publikum da sind. Die Ausübung meines Berufs verstehe ich als Dienstleistung für die Zuhörerschaft – ich möchte Musik daher mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und mit einer gewissen Portion Spaß vermitteln. Die Menschen sollen unsere Freude an der Musik spüren können!
Felix Hauswirth
Man unterscheidet beim “Dirigieren“ verschiedene Aspekte. All die technischen Faktoren: das Dirigierhandwerk, das Partiturstudium, die Gehörschulung, eine effiziente Probenmethodik, können sehr wohl gelehrt und gelernt werden. Diese erlernten Fähigkeiten können aber nur sinnvoll angewendet werden, wenn die dirigierende Person ein Musiker oder eine Musikerin ist. Erste Voraussetzung für Dirigierstudium ist also eine Musikerausbildung.
Talent ist sehr hilfreich und für eine erfolgreiche Karriere wahrscheinlich sogar nötig. Die Begabung wirkt dann allenfalls hindernd, wenn der Fleiß dadurch nicht genügend ausgeprägt ist. Ein durchschlagender Erfolg wird sich nur bei einer Kombination von Talent und Fleiß einstellen.
Training oder besser gesagt “Erfahrung“ sind dabei ganz wichtig. Aber auch hier gilt: Erfahrung allein macht noch keinen guten Dirigenten (und auch keinen guten Dirigierlehrer).
Dominik M. Koch
Talent ist sicher wichtig und hilfreich, aber wie so oft, ist es längst nicht alles und da das Dirigieren eine so umfassende Tätigkeit ist, gehört auch viel Selbstdisziplin und „Arbeit“ dazu. Sicher stimmt auch die These, dass ein guter Dirigent zuerst auch ein guter Musiker sein muss; nicht umsonst sind nach meiner Wahrnehmung gerade im Sinfonieorchesterbereich heutzutage häufig Dirigenten gefragt, die eigentlich keine Dirigier-Ausbildung im klassischen Sinn besitzen, aber stattdessen eine tolle Orchesterstelle hatten und z.B. unter vielen, hervorragenden Dirigenten als Musiker gespielt haben. Neben diesen Aspekten gibt es aber auch beim Dirigieren faktische Dinge und Bereiche wie Dirigiertechnik, Probenmethodik, fachlich musikalisches Wissen, Partiturstudium, Repertoirekunde, Führungseigenschaften, die man lernen und entwickeln kann.
Daniel Niederegger
Mir gefällt der musikalische Leitspruch des Bundesjugendreferenten des Österreichischen Blasmusikverbandes (ÖBV) Helmut Schmid: „Leidenschaft ohne Disziplin bringt gar nichts.“ Daher denke ich schon, dass man auch Dirigieren lernen kann. Natürlich ist ein gewisses Maß an Talent hilfreich. Ich vergleiche Musik immer gerne mit dem Sport: auch dort gibt es solche mit viel Talent und solche mit weniger, welche diesen Unterschied aber mit hartem Training und Willen wettmachen.
Training ist sicher ein großer Teil, vor allem um das Handwerk, d.h. die Schlagtechnik, die Bewegungen und Gesten zu verinnerlichen, um zu korrigieren, was der Musik hinderlich ist oder auch ästhetisch stören. Der Rest ist Erfahrung aus den Lehrproben, den Proben mit den eigenen Orchestern und das, was man sich bei den Anderen abschaut.
Miriam Raspe
Das meiste Training ist im Bereich Schlagtechnik und Partiturstudium nötig. Hierbei ist es von Vorteil, wenn man ein Talent für schöne, natürliche, fließende Bewegungen der Arme hat und solche auch gut nachahmen kann. Hat man dafür weniger das Talent, muss man mehr trainieren, schafft es aber bei guter Unterweisung ebenfalls zu einem schönen Schlagbild. Auch in den Bereichen Zwischenmenschliches und Probentechnik gibt es mehr oder weniger talentierte Studierende. Ich kann angehende Dirigenten in ihren ersten Proben-Versuchen gut anleiten und dabei auch viel von dem vermitteln, was eine gute Beziehung zwischen Dirigent und Orchester ausmacht. Diese Bereiche hängen allerdings stark mit dem persönlichen Entwicklungsstand eines Studierenden sowie mit seinen instrumentalen Fertigkeiten zusammen. Vor allem durch die Praxis und durch die Erfahrung vorm eigenen Musikverein lernt man vieles von dem, was später das Können als Dirigent ausmacht, und was ich im Dirigierunterricht meinen Studierenden lediglich aus eigener Erfahrung berichten kann. Dirigieren kann ich also nur bis dorthin gut unterrichten, wo die Grenzen zur Persönlichkeit, zum Instrumentalspiel, zum musiktheoretischen Wissen und zur Gehörbildung fließend verlaufen, denn auf diese Dinge habe ich wenig Einfluss. Es gibt tatsächlich Persönlichkeiten, die schlichtweg nicht dafür geschaffen sind, Dirigenten zu werden — wobei sich das auch eines Tages ändern kann, da sich Persönlichkeiten stets wandeln und nichts in Stein gemeißelt ist. Tatsächlich kann das Erlernen vom Dirigat beispielsweise dazu führen, dass verschlossene Charaktere beginnen, sich zu entfalten und selbstbewusster aufzutreten.
Prof. Walter Ratzek
Die Anforderungen an einen Dirigenten sind wirklich sehr vielfältig. Vieles lässt sich auch mit weniger Talent entwickeln und „antrainieren“ – das Wesentliche allerdings nicht.
Dirigieren beinhaltet für mich Leiten, Führen, Überzeugen – und das immer mit ausgeprägtem Gestaltungswillen, pädagogischem Geschick und künstlerischer Kompetenz.
Ganz bewusst habe ich hier das reine Taktschlagen weggelassen!
Prof. Ernst Oestreicher
Zugegeben, diese zwei Fragen beschäftigen mich nun schon seit 50 Jahren, als ich zum ersten Mal einen Dirigentenlehrgang als 15-Jähriger besucht habe. Was gibt es da eigentlich zu lernen? Ein paar Schlagbilder – das war’s, und der Lehrende erzählte ein paar Anekdoten aus seinem Leben als Orchesterleiter.
Ja, man kann Dirigieren lehren und man kann Dirigieren lernen, so wie man auch ein Musikinstrument lernt. Der Instrumentalschüler lernt seine – zugegeben vielleicht kompliziertere – Spieltechnik in mühevoller jahrelanger Übung, lernt Rhythmus, musikalischen Ausdruck, viele Etüden und Vortragsstücke, der Erfolg ist abhängig von seiner intensiven Beschäftigung mit der Musik, seiner Begabung, seinem Fleiß und seiner Persönlichkeit.
Das gilt auch für den Dirigenten gleichermaßen. Es gibt auch beim Dirigieren ein Handwerk, einige zugegeben von Dirigent(in) zu Dirigent(in) verschiedene Meinungen darüber, aber dieses Handwerk funktioniert nur
- im Zusammenhang mit einem großen künstlerischen Aussagewillen
- intensiver Beschäftigung mit der Partitur und deren Interpretation
- absolut sicherem Wissen über Musiktheorie, aufführungspraktischen und stilistischen Gegebenheiten
- probentechnischen Kenntnissen
- einem äußerst feinem Gehör für die verschiedenen musikalischen Parameter
- der Fähigkeit, eine komplexe Partitur durchzuhören
- Persönlichkeit und Führungswille
- psychologischem und pädagogischem Wissen um den musizierenden Menschen.
Als Juror bei Wettbewerben konnte ich immer wieder feststellen, dass sich Orchester sehr gut einstudiert präsentiert haben, aber die Musik „leblos“ war, weil der Dirigent /die Dirigentin keinerlei Ausstrahlung in Gestik und Mimik hatte, sondern nur den Takt schlug.
Gerade vielen Instrumentalisten, die in der Probe alles regeln und vorbereiten können, fehlt dann dieses dirigiertechnische Repertoire, um eine Interpretation dem Ensemble „aufzuzwingen“, um alle Musiker*innen so zu inspirieren, dass sie absolut „im Flow“ sind.
Das ist das, was für mich Dirigieren ausmacht:
Mit meiner Dirigiertechnik kann ich auf der Bühne nonverbal all das sagen, was ein Musiker/eine Musikerin braucht, um das Werk in all seiner Tiefe dem Zuhörer näher zu bringen. Ja – ich helfe auch dem Zuhörer, die Musik zu verstehen und zu verinnerlichen, z. B. wenn ich durch Einsätze in diese und jene Richtung ihnen auch eine Richtung des Hörens gebe.
Ein Dirigent, der nicht proben kann, scheitert ebenso, wie ein Probenleiter, der nicht dirigieren kann.
Beides zu lernen erfordert ein intensives Studium und eine hohe künstlerische und menschliche Persönlichkeit. Und beides verlangt ein lebenslanges Lernen und Beschäftigen mit der Musik.
Ein herzliches Dankeschön an Gernot Haidegger, Felix Hauswirth, Dominik M. Koch, Daniel Niederegger, Miriam Raspe, Walter Ratzek und Prof. Ernst Oestreicher für ihre Gedanken zum Thema. Für Deine Gedanken zum Thema „Kann man dirigieren lernen? Kann man dirigieren lehren?“, liebe Blasmusikblogleserin, lieber Blasmusikleser, steht unten das Kommentarfeld zur Verfügung. Die Diskussion ist eröffnet.
*Round-Up-Post: Kurz gesagt, ein Thema – viele Antworten! Bei einem Round-Up-Post befrage ich verschiedene Persönlichkeiten aus der Blasorcherszene zu einem bestimmten Thema. Der nächste Round-Up-Post ist schon in Arbeit. Das Thema ist “Beruf Blasorchesterdirigent – Chancen? Risiken?”. Wer sich innerhalb eines Blog-Beitrags zu diesem Thema äußern möchte, meldet sich bitte bei mir: alexandra@kulturservice.link.
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