Das besondere Konzert: Klangfusion in St. Gallen
[Werbung | enthält Produktnennungen und Affiliate-Links]
Lange habe ich keinen Beitrag mehr in der Reihe „Das besondere Konzert“ auf dem Blasmusikblog veröffentlicht. Da es aber immer wichtiger wird, sich über neue, attraktive Konzertformate Gedanken zu machen, möchte ich dieses Jahr auf dem Blasmusikblog hier einen Schwerpunkt setzen. Die Beiträge sollen für Euch Inspiration sein; sie sollen Euch Mut machen, neue Wege zu gehen. Und Mut braucht es manchmal und auch Rückgrat, denn leider hat sich in unseren Blasorchestern eingeschlichen, dass die Stimmen der Bedenkenträger die Qualität haben, gute Ideen sehr schnell zu Nichte zu machen oder im Keim zu ersticken. Leider.
Ich erlebe das oft in meinen Workshops. Einerseits wird erkannt, dass es notwendig für den Musikverein ist, „sichtbar“ in der Gemeinde zu werden und mit tollen Aktionen und Konzertprojekten auf sich aufmerksam zu machen. Andererseits werden, noch bevor Ideen konkretisiert werden, die „Ja, aber“-Sager allen Ideengebern den Mut nehmen, schon allein in diese Richtung zu denken. Ein Beispiel: Kürzlich war ich in der Schweiz bei einem Musikverein. Dieser probt in einem Gebäude neben einem tollen, abgeschlossenen Kirchplatz (Sackgasse ohne Durchgangsverkehr. Die Kirchenstufen und die Plattform darüber vor der Kirche ausreichend als Bühne für ein großes Blasorchester). Mein erster Gedanke: Super geeignet für ein Open-Air-Konzert! Neben vielen Argumenten, warum das nicht geht – obwohl es noch nie ausprobiert wurde – das Super-Argument: Das ist bei uns in der Schweiz nicht so einfach! Na gut. Kein Open-Air… Warum nur kommen immer vor den Überlegungen, wie die Idee realisiert werden könnte, erst einmal tausend “Ja-Abers”? Schreckliche Angewohnheit.
Bevor ich mich aber in diesem Thema verliere, schwenke ich hier sofort zum eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags über: Das besondere Konzert – Klangfusion in St. Gallen!
Auf den ersten Blick sah es wie ein Doppel-Konzert zweier Blasorchester aus St. Gallen aus. Bei näherem Hinsehen und Aneignung des Wissens: Die beiden Blasorchester können unterschiedlicher nicht sein. Die Stadtmusik St. Gallen, die schwerpunktmäßig ein Orchester ist, das vor allem Sinfonische Blasmusik zelebriert und die Otmarmusik St. Gallen, die für ihre Unterhaltungsshows bekannt sind und sich dem, was die Amerikaner „light music“ nennen, verschrieben haben. „Leichte Musik“ nicht im Sinne des Schwierigkeitsgrads, sondern weil die vielfältigen Stile der gespielten Werke leicht, lässig und locker flockig daher kommen und nicht nur zum Zuhören, sondern zum „sich bewegen“ einladen. Also Werke sind, die unseren Fuß wippen lassen, die Hände zum Klatschen oder Schnippen bringen und den Popo kaum ruhig auf dem Sitz halten.
Die drei vom Dirigenten Niki Wüthrich ausgewählten Werke der Stadtmusik St. Gallen waren jeweils eine Klangfusion an sich. Gekennzeichnet sind sie jeweils dadurch, dass Komponisten von einer Seite des großen Teichs sich Themen der anderen Seite annehmen. Oscar Navarro fusioniert in Downey Overture Klänge aus seiner Heimat Spanien mit Eindrücken seiner zweijährigen Studienzeit in Kalifornien, USA. Der Amerikaner David Maslanka ehrt mit der Verwendung eines Bach-Chorals in Give Us This Day einen der bedeutendsten Komponisten der „alten Welt“: Johann Sebastian Bach. Und der Schweizer Franco Cesarini schließlich lässt in seiner Sinfonie Nr. 3 „Urban Landscape“ seiner Begeisterung über Chicago bei Tag und bei Nacht freien Lauf.
Vor dem Konzert hörte ich hinter mir in der Sitzreihe, wie sich zwei Blasmusik-Kollegen unterhalten haben. Sagt der eine zum anderen: „Ich bin ja nicht so für die klassische Musik. Mir gefällt mehr, was die Otmarmusik macht. Aber ich kann ja schlecht erst nach der Pause kommen…“. Nun, bei mir wäre diese Aussage in der Regel andersrum. Ihr kennt mich… Leider habe ich mich nicht getraut, den älteren Herrn hinter mir zu fragen, wie die Musik der Stadtmusik denn nun auf ihn gewirkt hat… Aber eines kann ich für mich beantworten: Ich habe sowohl die Stadtmusik als auch die Otmarmusik genossen. Und wenn ich an die Jazz-Club-Szene in Francos Sinfonie im zweiten Satz denke: Nun, bei der „light music“ geklaut… Geklaut? Nein, natürlich nicht. Das gehört so. Wobei wir wieder bei der Klangfusion sind. Was ist unsere Blasmusik anderes? Sie ist mit ihrer Vielfalt Klangfusion in vielen, wenn nicht sogar in allen Bereichen… Sinfonische Blasmusik oder Unterhaltungsmusik hin oder her… Beides vermischt sich. Immer wieder. Manchmal gewollt, manchmal aus Zufall. Das macht unsere Blasmusik doch erst spannend, oder?
Gut, eines hasse ich. Und das wisst Ihr spätestens seit meinem Beitrag Pop-Musik für Blasorchester? Wenn’s denn sein muss… Ich hasse schlechte 08-15-Arrangements von Pop, Rock, Swing, Film, Musical und ähnlichen Genres. Davor blieb ich jedoch im zweiten Konzertteil mit der Otmarmusik St. Gallen verschont. Sie hatten Originalwerke in „leichtem“ Stil im Programm, die ich fast schon als „Perlen der Unterhaltungsmusik“ bezeichnen würde: Pleasure in Rhythm von Koos Mark, Blue Trombone vom legendären Gründer der Big Band der Bundeswehr Günter Noris (zieht Euch bitte auch mal seine anderen Werke rein! Heiße Empfehlung für Eure Sommerprogramme) und What’s Cooking? von Denis Armitage. Gut Pomp and Circumstance No. 1 in der Bearbeitung von Hideaki Miura fand ich eher für die Tonne… Aber toll gemachte Arrangements wie zum Beispiel Benny Goodman Memories von Naohiro Iwai und The Girl from Ipanema in der Bearbeitung von Peter Kleine Schaars versöhnten mich ganz schnell. Ehrlicher Weise muss ich hier schreiben, dass man dem Orchester anhörte, dass die Probenzeit sehr kurz war. Der Präsident der Otmarmusik verriet in seiner Ansprache, dass der Dirigent Stefan Herzig erst seit vier Wochen im Amt ist. Vermutlich nicht genug Zeit, um differenzierter in Stilistik, Klang und Dynamik zu musizieren. Egal. Mir machte das Zuhören Spaß und sehr viel wichtiger: Das Publikum hatte große Freude und wurde mitgerissen. Was will man mehr? Und auf was kommt es eigentlich an? Eben!
Von einem beeindruckenden Konzertbesucher muss ich Euch unbedingt noch berichten. Eine Reihe vor mir auf der anderen Seite des Gangs saß ein älterer Herr. Ich kann schlecht das Alter schätzen, aber über 80 war er sicher! Zum ersten Mal fiel es mir beim Maslanka (!) auf: Wow, der Mann kennt das Werk! Seine Bewegungen von den Händen (fragmentweise korrekte, auf die Musik passende und vorausschauende Dirigierbewegungen), Beinen und Füßen ließen darauf schließen! Also nicht nur ein reines bewegen zur Musik, sondern ein pass-genaues! Bei Maslanka!?? Ebenso in der Sinfonie von Cesarini… Unglaublich. Er möge es mir bitte verzeihen, aber ich fand das so beeindruckend, dass ich es unbedingt festhalten musste. Dieser Mann liebt diese Musik (wie ich…).
Am Ende des Konzerts, als Zugabe, wurde die Klangfusion zwischen beiden Orchestern in gemeinsamer Musik zelebriert: Weit über 100 Musiker:innen auf der Bühne! Mitreißend The Walled City Suite von Christoph Walter.
Also, Ihr habt es gelesen, der Schwerpunkt auf dem Blasmusikblog in diesem Jahr ist „Das besondere Konzert“. Dazu habe ich noch zwei Konzerte als Vorbild in der Pipeline. Wenn auch Ihr ein besonderes Konzert veranstaltet habt oder demnächst veranstaltet: bitte meldet Euch! Wenn auch ich es tatsächlich besonders finde, bekommt Ihr von mir einen Fragenkatalog – ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den meisten lieber ist, wenn sie Fragen beantworten können und somit einen Leitfaden für’s Schreiben haben. Schreibt mir gerne eine Mail an: alexandra@kulturservice.link. Danke!
Hallo Alexandra
Als Musiker in der Stadtmusik St. Gallen danke ich dir für diesen tollen Beitrag!
Es war auch für uns Aufführende ein mitreissendes Erlebnis.
PS: Der “ältere” Herr, der so feurig dirigierte ist mein lieber 83ig-jähriger Herr Papa! Musik ist eine seiner grossen Leidenschaften und das sieht man eindeutig 🙂
Liebe Grüsse
Roland, Bassklarinettist
Pingback: Höchstklassige Blasmusik mit den besten Blasorchestern der Schweiz – Blasmusik