Große Dirigenten, große Fragen: Yves Segers
Ein Gastbeitrag von Dirk Verholle
Alle Fotos ©Kristof Moens
Dies ist der fünfte Beitrag einer Serie von Interviews mit großen (oder auch großartigen) Dirigenten. Die Interviews führte Dirk Verholle, der Redakteur der Verbandszeitschrift Klankboard von VLAMO, dem flämischen Musikverband. Diesmal hat Dirk seine Fragen Yves Segers gestellt. Yves Segers ist Chef-Dirigent der Koninklijke Muziekkapel van de Gidsen, Belgien.
Für mich persönlich gehören die Gidsen zu den besten Orchestern, die ich je gehört habe. Unvergesslich für mich zum einen das Jubiläumskonzert “30 Jahre The Lord of the Rings” in Sittard (NL) und zum anderen der grandiose Auftritt der Gidsen beim Internationalen Blasmusik Kongress IBK im Jahr 2020 in Neu-Ulm – zwei Konzerte, die für mich zu den großartigsten gehören, die ich je gehört habe.
Hier nun das Interview, das Dirk Verholle mit Yves Segers geführt hat:
Mit ein paar Fragen versuchen wir, in die Köpfe einiger großer Dirigenten zu schauen. Wie denken sie als professionelle Dirigenten eines Berufsorchesters über ihr Repertoire nach? Ihre Tipps und Tricks können Dirigenten bei ihren Entscheidungen für Amateurorchester inspirieren.
Wie sieht für Sie ein gelungenes Konzertprogramm aus?
Yves Segers: „Ihre erste Frage zeigt, zumindest meiner Meinung nach, eine der schwierigsten Aufgaben eines Dirigenten auf, nämlich die Zusammenstellung eines erfolgreichen Programms. Dafür muss man, meiner Meinung nach, mehrere Faktoren berücksichtigen. Wie gesagt, es ist eine der schwierigsten Facetten unseres Dirigentenberufs, immer ein Programm zusammenzustellen, das verschiedenen Parametern gerecht werden muss und nicht zuletzt, dass es auch beim Publikum ankommt, denn nur dann kann man von einem erfolgreichen Programm sprechen. Was macht das Programm zu einem Erfolg? Letztlich entscheidet die Reaktion des Publikums, ob Ihr Programm und damit Ihr Konzert ein Erfolg war. Während früher der Schwerpunkt darauf lag, neue, schwierige und anspruchsvolle Kompositionen zu spielen, steht heute eher der Unterhaltungswert einer Komposition im Vordergrund, sowohl für die Interpreten selbst als auch für das Publikum. Die Komponisten sind manchmal sehr erfinderisch, wenn es darum geht, neue Kompositionen zu schaffen, die nicht nur das Ohr, sondern heutzutage auch das Auge vieler Konzertbesucher anregen. Auch dies spielt natürlich eine Rolle bei der Gestaltung eines erfolgreichen Konzertprogramms. Konzertveranstalter haben oft auch ihre “Wunschliste”, die es zu berücksichtigen gilt. Das kann für Sie als Programmgestalter eine Hilfe sein, kann aber auch die Ursache für eine schwierige Suche nach einer erfolgversprechenden Programmgestaltung sein. Eine weitere Sache, die Ihr Programm sicherlich zum Erfolg führen kann, ist die Festlegung einer konstruktiven Sequenz mit einem musikalisch eindrucksvollen Höhepunkt gegen Ende Ihres Konzerts. Ausreichende Variationen im musikalischen Stil und/oder in der Instrumentierung, die Aufnahme eines Konzerts mit einem herausragenden Solisten in das Programm, können ebenfalls einen wichtigen Beitrag zu einem erfolgreichen Programm leisten.“
Wie wird ein Konzertprogramm sowohl dem Geschmack der Musiker als auch dem des Publikums gerecht? – Wie wählen Sie das Repertoire für ein Konzert im Einzelnen aus?
Yves Segers: „So wie ein Publikum nicht wie ein anderes ist, so ist es auch mit den Musikern. Leider kann man es nicht allen recht machen, so sehr man es auch möchte. In erster Linie kann man sich nicht über die Wünsche der Veranstalter hinwegsetzen. Schließlich sind sie Ihr “Kunde”, dessen Wünsche Sie erfüllen wollen. Ein gutes Vorgespräch wird Ihnen viele Informationen liefern, die Ihnen bei der Zusammenstellung eines Programms helfen können. Letztendlich müssen Sie eine wohlüberlegte und fundierte Programmauswahl treffen und versuchen abzuschätzen, mit welchem Programm Sie das Publikum bei dem jeweiligen Konzert überraschen können. Am besten ist es also, wenn Sie sich vorher gut darüber informieren, welche Art von Publikum der Veranstalter für das Konzert erwartet. Sie müssen Ihr Publikum kennen und einschätzen können. Das ist eine gute Ausgangsbasis für die Zusammenstellung Ihres Programms. Wenn es sich um ein Kennerpublikum handelt, können Sie ruhig mehr neues und/oder innovatives Repertoire auswählen. Wenn Ihr Veranstalter ein Publikum erwartet, das eher “unterhaltsam” ist, dann sollten Sie vielleicht die bekannteren Werke aus dem Klassik- und/oder Filmgenre durchstöbern. Und wenn Sie sich für eine Auswahl entschieden haben, ist es gut möglich, dass Sie schon bei den Proben Befürworter und Gegner unter den Musikern erleben. Ob Sie Solisten einbeziehen und was sie mit Ihrem Orchester spielen werden, sollten Sie ebenfalls gut überlegen, denn auch sie sind wichtig für den Erfolg Ihres Programms.“
Transkriptionen/Bearbeitungen versus Originalwerke: was denken Sie über dieses Thema?
Yves Segers: „Das “Harmonieorchester”, wie wir es heute kennen, hat eine lange Geschichte hinter sich, bis es schließlich zu Orchesterkompositionen kam, wie wir sie heute kennen. Es wurde früher (und wird leider manchmal immer noch) als eine dem Sinfonieorchester unterlegene Orchesterform angesehen. Zu Unrecht, wie ich finde. Daher sahen einige Komponisten keinen Sinn darin, Originalwerke für diese Besetzung zu schreiben, was dazu führte, dass das ursprüngliche Repertoire etwas eingeschränkt war. Infolgedessen waren Dirigenten und Musiker oft gezwungen, bestehende symphonische Musik auf ihre eigene Orchesterbesetzung mit reinen Blasinstrumenten zu transponieren. Freilich hat auch dies bis heute eine gewisse Entwicklung durchgemacht. Sie hat letztlich dazu geführt, dass den heutigen Blasorchestern ein umfangreiches Repertoire zur Verfügung steht, und das Arrangieren oder Transkribieren von einer Orchesterform in eine andere hat sich im Laufe der Jahre zu einer vollwertigen Funktion entwickelt, die das nötige Wissen und “Metier” erfordert. Natürlich ist die heutige Situation eine ganz andere, und wir kennen sogar viele Komponisten, die fast ausschließlich für Bläser schreiben oder ihre eigenen Kompositionen für verschiedene Orchesterformen realisieren. Es gibt also ein sehr breites Spektrum an neuen Kompositionen für Blasorchester, aus dem wir schöne Konzertprogramme zusammenstellen können. Und das eine schließt das andere nicht aus. Wie gesagt, es gibt wunderbare Transkriptionen von sinfonischen Werken für Blasorchester (von denen einige, so wage ich zu behaupten, sogar besser klingen als das Original), die wirklich neben einer Originalkomposition auf dem Konzertprogramm stehen können. Eine gute Komposition wird nicht so sehr durch die Orchesterbesetzung bestimmt, sondern vielmehr durch die Anwendung von Kompositionstechniken, den musikalischen Inhalt und das musikalische Material, mit dem der Komponist bei der Schaffung seines Werks gearbeitet hat.“
Wie bringen Sie Ordnung in die Flut von Neuerscheinungen, die die Dirigenten jedes Jahr überschwemmt? Wie wählt man aus und wie archiviert man?
Yves Segers: „Es kommt so viel neue Musik auf den Markt, dass man gar keine andere Wahl hat, als eine Auswahl zu treffen. Natürlich möchte ich auch jungen Komponisten eine Chance geben. Deshalb finde ich es wichtig, ihnen “eine Bühne zu geben”, wie es so schön heißt. Die Möglichkeit, ein neues Werk uraufzuführen und als Pionier eine erste musikalische Interpretation davon zu geben, ist für mich nicht unwichtig. Dass eine ziemlich reale Chance besteht, dass Ihre Aufführung dann auch als Referenz für spätere Aufführungen von Kollegen dient, halte ich für einen sehr edlen Gedanken.“
Wann ist eine Komposition für Sie besonders gelungen und was macht eine gute Komposition generell aus?
Yves Segers: „Das ist sehr komplex. Es gibt mehrere Faktoren, die über Erfolg oder Misserfolg einer Komposition entscheiden, und diese Faktoren sind nicht ausschließlich musikalischer Natur. Es kann sein, dass eine Komposition weniger inhaltsreich ist, aber das Publikum nach der Aufführung mit Begeisterung reagiert. Letztendlich ist es also der Hörer, der hier das letzte Wort hat. Ich habe das Glück, schon schöne Kompositionen von bekannten Komponisten dirigieren zu dürfen, von denen ich persönlich sehr begeistert war, bei denen aber nach der Aufführung die Meinungen des Publikums etwas geteilt waren. Letztlich ist ein Stück auch emotional und subjektiv. Wenn eine Komposition bei ihrer Aufführung die Emotionen hervorruft oder die Reaktion beim Publikum erreicht, für die der Komponist sie geschrieben hat, dann kann man sicher sagen, dass es eine gute Komposition ist.“
Welche Empfehlungen würden Sie Kollegen geben, die wissen wollen, wie man am besten ein Konzertprogramm zusammenstellt?
Yves Segers: „Ich versuche vor allem, ein Programm mit genügend Abwechslung zusammenzustellen, damit sozusagen für jeden etwas dabei ist. Manchmal ist es auch von Vorteil, die verschiedenen Werke durch ein Thema oder einen roten Faden, der sich durch das Programm zieht, miteinander zu verbinden. Manchmal werden Sie nach Ihrer Suche so viele Ideen gesammelt haben, dass Sie am Ende zu viele Möglichkeiten haben und sogar eine Auswahl treffen müssen, was Sie machen und was nicht. Denken Sie an die Dauer Ihres gesamten Programms, denn auch das ist ein wichtiger Faktor für ein gutes Programm. Ihr Publikum mag von der schönen Darbietung der ausgewählten Stücke überwältigt sein, aber nichts kann enttäuschter sein, als zu hören, dass das Programm zu lang war…“
Was war für Sie Ihr bisher erfolgreichstes Konzertprogramm und was hat es zu einem Erfolg gemacht?
Yves Segers: „Ich habe hier natürlich das Glück, viele Programme mit dem wunderbaren Orchester der “Königlichen Musikkapelle der Gidsen” aufführen zu können. Aus den Hunderten von Konzerten, die ich bereits mit ihnen gegeben habe, ein Konzert auszuwählen, ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit. In allen Konzerten spielen sie auf einem so hohen musikalischen und professionellen Niveau, dass es jedes Mal eine große Freude ist. Für mich ist ein Konzertprogramm ein Erfolg, wenn das Publikum danach begeistert reagiert. Wenn ich aus all diesen Konzerten einige auswählen müsste, wären es sicherlich die, die große Werke mit Chor und Solisten beinhalteten, wie die 9. Sinfonie von L. van Beethoven oder die Carmina Burana von Carl Orff. Unvergesslich sind die Konzerte in großartigen Konzertsälen, bei denen ich mit großen internationalen Solisten zusammenarbeiten durfte. Ich werde hier keine Namen nennen, weil die Gefahr bestünde, dass ich einen von ihnen zu Unrecht vergesse, was ich unverzeihlich fände…. Konzerte in Anwesenheit von Mitgliedern der königlichen Familie sind ebenfalls echte Höhepunkte, wie das Konzert im Königlichen Palast zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs und kürzlich das Konzert im ausverkauften BOZAR in Brüssel anlässlich des zehnjährigen Regierungsjubiläums Seiner Majestät König Philippe in Anwesenheit des Königs und der Königin.“
Was wünschen Sie sich von Komponisten einerseits und Verlegern andererseits für die Zukunft?
Yves Segers: „Das ist eine schwierige Frage… so klein unser Land auch ist, so groß ist die musikalische Qualität, die wir zu bieten haben, und darauf sollten wir uns weiterhin konzentrieren: auf die Qualitätsmusik unserer belgischen Komponisten und Interpreten und auf die weitere Verbreitung unserer reichen Kultur.“
Thema “Zugabe”: was passt, was passt am besten und welche Literatur ist dafür geeignet?
Yves Segers: „Vor allem sollte es kurz und für das Publikum leicht “verdaulich” sein. Die Leute verlangen mit ihrem Applaus eine Zugabe, es muss also nicht das schwierigste Stück des ganzen Abends sein. Manchmal ist es sogar vertretbar, ein gelungenes Fragment des Konzerts als Zugabe zu wiederholen, oder eine Zugabe mit einem spielerischen oder witzigen Augenzwinkern, das funktioniert. Und warum nicht ab und zu einen Hauch von “Show” hinzufügen? Auch das kommt beim Publikum gut an!“
Können Sie uns Ihre persönliche “Bucket List” mit Werken nennen, die Sie noch nicht aufführen konnten, aber unbedingt aufführen möchten?
Yves Segers: „Kürzlich habe ich ein Werk von meiner Wunschliste gestrichen, nämlich das Violinkonzert von Jean Sibelius, und zwar in einer Transkription für Violine und Blasorchester, aufgeführt mit der Royal Music Chapel of the Guides.
Als Flötist bin ich nach wie vor sehr eng mit dem sinfonischen Repertoire der klassischen Musik verbunden. Ich konnte bereits mehrere Sinfonien von Dvořák und Brahms dirigieren, und die übrigen stehen noch auf meiner “Wunschliste”.
Ich versuche auch, meinen Teil zur Aufführung neuer Werke belgischer und ausländischer Komponisten beizutragen. Erst kürzlich wurden zwei neue, wunderschöne Konzerte für Saxophon und Orchester von Dirk Brossé und Oscar Navarro komponiert. Die würde ich natürlich auch gerne aufführen!“
Übersicht der Serie:
Norbert Nozy
Tijmen Botma
Alex Schillings
Alain Crepin
Yves Segers
Gert Buitenhuis
Herzlichen Dank an Dirk Verholle für die zur Verfügungstellung dieses Interviews. Es ist zuerst in der Verbandszeitschrift Klankbord der VLAMO erschienen.