Zeitgenössische, originale Blasmusik – für wen spielen wir eigentlich?
Schon sehr lange, seit ich begonnen habe, mich für die original komponierte Musik für Blasorchester zu interessieren, denke ich auch darüber nach, wie wir unsere Musikerinnen und Musiker sowie unser Publikum dafür begeistern können. Wer den Blasmusikblog regelmäßig verfolgt weiß, dass ich eine große Liebhaberin der originalen, speziell für Blasorchester komponierten Musik bin. Ich setze mich für die „noch lebenden“ Komponisten und ihre Werke mit ganzer Kraft ein. Es ist meine Mission. Das basiert auf meiner großen Leidenschaft für Originalkompositionen. Ein bisschen auch auf der Abneigung gegen Bearbeitungen und Transkriptionen – wenn sie im Übermass oder ausschließlich auf den Konzertprogrammen der Blasorchester stehen. Ich lehne Bearbeitungen und Transkriptionen nicht per se ab. Sie sollten meiner Meinung nach jedoch nur als Ergänzung bzw. Abwechslung zu originalem Material in den Konzertprogrammen stehen. Und gewisse Transkriptionen, vor allem von großen klassischen Werken, haben meiner Meinung nach überhaupt nichts in den Konzertprogrammen unserer Blasorchester zu suchen. Wenn ich die Alpensinfonie von Richard Strauss hören möchte, gehe ich ins Sinfonieorchesterkonzert. Für Werke von Stravinski u. ä. Komponisten gilt das gleiche. Und wenn ich Musik aus Wagner-Opern hören möchte, gehe ich nach Bayreuth.
Original komponierte Musik für Blasorchester – was meine ich damit? Nun, manche nennen es sinfonische Blasmusik, andere konzertante Blasmusik. Aber eine eindeutige Bezeichnung für größere oder große Werke, original geschrieben für eine vollständige Blasorchester-Besetzung nach internationaler Orchestrierung, haben wir nicht. Sinfonische Blasorchester, also Orchester, die sich genau so oder ähnlich (Bsp: Bläserphilharmonie) nennen, spielen natürlich nicht nur Originalwerke. Da sind auch Transkriptionen klassischer Werke oder Bearbeitung von Pop, Film, Show dabei. Deshalb ist die Bezeichnung „Sinfonische Blasmusik“ für diese Art Werke auch nicht ganz überzeugend. Ich nenne diese Art am liebsten Originalwerke und decke damit auch Werke ab, die durchaus auch unterhaltenden Charakter haben können. Nicht gemeint sind bei dieser Bezeichnung Polkas, Walzer, Märsche – die im engen Sinne ja auch „Originalwerke“ sind. Werke, die einen großen kompositorischen Anteil haben, jedoch auf bekannten Melodien (Choräle, Volkslieder, o. ä.) basieren, zähle ich hinzu. Ebenso Eröffnungswerke, die Fanfaren- oder Intraden-Charakter haben.
Soweit die begriffliche Erklärung.
Die Vielfalt, die sich hinter dem Begriff Originalwerke verbirgt, ist unermesslich groß. Mittlerweile gibt es für jedes Niveau entsprechende Werke. Unter- bis Mittelstufen-Orchester finden genau so tolle Werke in ihrem Bereich, wie die Oberstufen-Orchester oder die Orchester, die in den obersten Schwierigkeitsgraden, teilweise auf sehr professionellem Niveau musizieren. Bereits in meinem Beitrag Von der Lust neues Repertoire zu entdecken habe ich die Behauptung aufgestellt: „Wer heutzutage sagt, es gibt keine guten Originalwerke für Blasorchester, hat schlichtweg keine Ahnung oder ist zu faul sich mit dem Repertoire der noch lebenden Komponisten zu beschäftigen.“ Das klingt natürlich provozierend, aber ich empfinde es tatsächlich so. Denn fange ich ein Gespräch mit diesen Personen über Repertoire an, dann stellt sich gleich heraus, dass so etwas wie eine umfassende Repertoirekenntnis nicht vorhanden ist.
Vor einiger Zeit bin ich auf diesen Facebook-Eintrag von Ruedi von Mühlenen gestoßen:

Ich habe versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber er war nicht bereit, sich mit mir auf Facebook zu verbinden, deshalb kam auch kein Austausch zustande. Schade. Ich hätte gerne hinterfragt, welche Stücke da gespielt wurden, die ihn so dermaßen abgeschreckt haben und ob es nur die Pflichtstücke waren oder auch die Selbstwahlstücke. Nun denn. Dem Thema Literatur bei Wertungsspielen und Wettbewerben widme ich mich weiter unten im Beitrag.
Beim Festival aVENTura im September im Jahr 2023 in Luzern-Kriens gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema Spielen wir am Volk vorbei? Eine Zusammenfassung könnt Ihr auf der Website des Schweizer Dirigentenverbands BDV lesen: https://www.dirigentenverband.ch/news/spielt-die-blasmusik-am-volk-vorbei.html?highlight=WyJhdmVudHVyYSJd Das Thema wurde sehr kontrovers diskutiert. Ein allgemein gültiges, eindeutiges Ergebnis gab es natürlich nicht.
Und bei Spotlight Conducting im Februar 2025 gab es die Podiumsdiskussion Spielen wir am Publikum vorbei? Leider war das Thema nicht so gut vom Diskussionsleiter vorbereitet wie von Michèle Schönbächler in Luzern. Das eigentliche Thema – also die Kritik an manchen Konzertprogrammen von großen Sinfonischen Blasorchestern, wie sie da und dort aufflammt – wurde nur etwas gestreift.
„Für wen spielen wir eigentlich?“ heißt dieser Beitrag. „Spielen wir am Volk vorbei?“ bzw. „Spielen wir am Publikum vorbei?“ waren die Fragestellungen bei den beiden Veranstaltungen. Ich habe es eben schon angedeutet, dieses Thema beruht auf der Kritik an Konzertprogrammen mit originaler Blasorchesterliteratur. Meistens von Konzerten der großen Blasorchester, die in den höheren Leistungsstufen spielen.
Ein Komponist hat eine andere Sicht auf das Thema Programmgestaltung als ein Dirigent, ein Musiker oder gar ein Verleger. Und das Publikum hat vermutlich nochmals eine ganz andere Meinung über die Programmgestaltung. Die Stimme des „normalen“ Publikums war übrigens weder in Luzern-Kriens noch in Bozen auf dem Podium vertreten.
Was meine ich mit „normalem“ Publikum: Es sind die Menschen, die normalerweise in unsere Konzerte kommen. Das Publikum ist von zentraler Bedeutung, wenn wir uns der Fragestellung „Für wen spielen wir eigentlich?“ nähern möchten. Deshalb müssen wir uns zuerst der Frage stellen, wer unser Publikum ist!?
Es gibt drei Kategorien von Personen im Publikum:
- Personen mit einer persönlichen Beziehung zu mindestens einem Musiker/einer Musikerin auf der Bühne (Familie, Freunde)
- Personen, die „von Amts wegen“ zum Konzert kommen (Verbandsleute, Politiker, Kirchenvertreter)
- An der (Blas-)Musik interessierte Menschen, ohne persönlichen Bezug
Wenn wir bei unseren Konzerten ins Publikum schauen, merken wir: Nahezu jeder im Publikum hat eine persönliche Beziehung zu mindestens einem Musiker/einer Musikerin auf der Bühne. Um diese Behauptung zu bestätigen habe ich im Netzwerk Sinfonische Blasmusik (Hier der Gruppe beitreten) auf Facebook eine entsprechende Kurz-Umfrage durchgeführt:

Damit ist erst einmal bewiesen: Wir spielen überwiegend für unsere Familien und Freunde (= 42%). An Blasmusik bzw. Musik allgemein interessierten Menschen kommen nur 17%.
Nun muss ich nochmals der Frage genauer nachgehen, welche Orchester und welche Programme in der Kritik stehen.
In der Regel sind es die leistungsstarken Orchester, die meist in den oberen Ligen spielen. In Grad-Zahlen ausgedrückt etwa die Orchester, die Grad 5/6 spielen, bzw. die Erstklass- und Höchstklassorchester, wie sich die Schweizer ausdrücken, die D-E-Orchester in Österreich, die Orchester, die beispielsweise in Riva beim Flicorno d’oro in der Superiore oder Eccelenza spielen können oder beim WMC in Kerkrade in der 1st Division oder in der Concert Division.
Oft sind das Auswahlblasorchester: beispielsweise Regionalorchester der Blasmusikkreis-, bzw. Bezirksverbände. Manchmal auch verbandsunabhängig organisierte Auswahlorchester, teilweise Stadtorchester oder große Sinfonische Blasorchester – manchmal Bläserphilharmonie oder ähnlich genannt – die aus Musikvereinen entstanden sind.
Einige von diesen Blasorchestern haben keine Probleme ihre Konzerte mit diesen speziellen Programmen mit überwiegend originaler Blasorchesterliteratur voll zu bekommen. Aber viele eben doch. Ich sehe bei ca. 350 Konzertbesuchern eine natürliche Grenze des Erreichbaren. Durchschnittlich bestehen diese Orchester aus ca. 60 – 90 Musiker:innen. Wenn wir nun die Erfahrungen zu Grunde legen, dass in unsere Blasorchester-Konzerte hauptsächlich Freunde und Familie kommen, dann sind das bei ca. 4 Personen pro Musiker:in ca. 240 bis 360.
Nun sollte man ja meinen, dass bei diesen „Vorzeigeorchestern“ viel Fachpublikum im Konzert anwesend ist. Mit Fachpublikum meine ich beispielsweise Dirigentinnen und Dirigenten sowie Musiker:innen von Blasorchestern. Es zeigt sich jedoch, dass gerade die fehlen… obwohl in den Regionen viel Potential vorhanden ist. In der obigen Umfrage sagen auch nur 18% dass Musiker:innen anderer Blasorchester bei ihren Konzerten anwesend sind.
Woran liegt das? Ist es tatsächlich deswegen, weil originale, zeitgenössische Blasorchesterliteratur gespielt wird? Ist die Kritik an diesen Werken tatsächlich so groß? Oder gibt es andere Gründe? Hört beispielsweise das Interesse am Hobby Blasmusik mit dem eigenen Musizieren im Verein auf? Oder ist Sport, der Abend auf der Couch oder feiern gehen attraktiver als das Konzert eines Blasorchesters? Ich denke nicht, dass es ausschließlich am Repertoire liegt…
Ich erinnere mich an die Podiumsdiskussion von Bozen. Da hat einer der Podiumsgäste eine selbst erlebte Geschichte erzählt. Er war in einem Konzert eines Militärblasorchesters. Der Moderator des Konzerts und gleichzeitig Kapellmeister hat Lincolnshire Posy von Percy Grainger angesagt und sich quasi dafür entschuldigt, dass jetzt eben „schwerere Kost“ gespielt werden würde (oder so ähnlich – ich weiß den Wortlaut nicht mehr genau). Entschuldigen dafür, dass ein Meisterwerk gespielt wird!??? Noch dazu eines, das in den Ohren ziemlich wohlklingend ist… Wenn wir selbst als Blasmusiker:innen nicht zu unserer Literatur stehen, scheint mir Hopfen und Malz verloren…
Ein Dirigent hat mir vor kurzem erzählt, dass er in einem Konzert war, in dem ein originales Blasorchester-Werk an das andere gereiht war. Er empfand die Musik als jeweils sehr ähnlich und was ihm komplett gefehlt hat, das waren die Emotionen. Kein einziges Werk des Abends hat ihn berührt. Hier kommen wir wieder zum Thema der Überforderung der Blasorchester auf Grund des Ehrgeizes des Dirigenten/der Dirigentin. So ein Konzert macht tatsächlich keinen Spaß – auch wenn originale Blasmusik gespielt wird. Übrigens macht es auch keinen Spaß wenn das Orchester alles brav spielt, scheinbar “in Schönheit stirbt”, aber ohne Begeisterung musiziert wird.
Ich selbst habe vor kurzem ein Konzert besucht, bei dem tolle Werke gespielt wurden: Anima Negra von Otto M. Schwarz, Flight von Benjamin Yeo, und ähnliches. Das Orchester: total überfordert! Die eigentlich schnellen Tempi so langsam, dass sie von den Musiker:innen einigermaßen bewältigt werden konnten („Wir haben soooo viel geübt“, hat mir eine Musikerin nach dem Konzert erzählt). Alles viel zu laut. Von Klang, Klangbalance und wohlklingender Intonation keine Spur… Aber: die Halle war voll, das Publikum war begeistert. Es gab Standing Ovation. Darüber war ich ungläubig erstaunt… Können wir vor unserem Publikum alles spielen egal in welcher Qualität? Begeistern wir unsere Lieben im Publikum allein mit unserer Anwesenheit auf der Bühne?
Ein nächster Gedanke: Gehen wir automatisch davon aus, dass das Publikum bei Blasmusik nur Polka, Walzer, Marsch, Pop, Film, Show hören möchte? Füttern wir deshalb unser Publikum übermäßig mit Polka, Walzer, Marsch, Pop, Film und Show, weil wir denken, dass diese Art der Musik dem Publikum am besten gefällt? Oder warum sind die meisten Konzertprogramme eher mit Unterhaltungsmusik und Melodien „die man kennt“ gefüllt? Wir sorgen in der Szene fleißig dafür, dass Blasmusik immer mit den Genres Polka, Walzer, Marsch in Verbindung gebracht wird. Wir feilen durch die ganzen Blasmusikfestivals auch an unserem Image, dass Blasmusik, Bier und Feiern zusammengehören. Ich finde diese Szene durchaus interessant und auch wichtig. Was mir eigentlich fehlt, ist, dass wir unsere originalen Blasorchesterwerke auch feiern – angemessen natürlich. Und dass wir differenziert über „die Blasmusik“ sprechen. Es gibt verschiedene Strömungen und Richtungen in der Blasmusik. Blasmusik ist vielfältig und hört mit Polka, Walzer, Marsch längst nicht auf. Diesen Fakt müssen wir in der Gesellschaft allerdings noch gründlich verbreiten. Nicht selten spielen übrigens die Leute, die in einer Siebener-Polka-Besetzung die Bühne rocken auch in den Auswahlblasorchestern, die sich der sinfonischen Blasmusik verschrieben haben. Sie schaffen den Cross-Over.
Ich denke, es ist immer noch eine Sache der interessanten, attraktiven Programm- und Konzertgestaltung an sich und des Marketings, ob wir mit unseren Konzerten mit originaler Blasorchesterliteratur beim Publikum ankommmen. Wir haben hier noch viel zu tun, um unserem Umfeld zu zeigen, wie toll die Konzerte der großartigen Orchester, die unsere zeitgenössische Literatur von noch lebenden Komponisten spielen, sind.
Meiner Meinung nach brauchen wir in den Konzertprogrammen Abwechslung, Überraschendes und etwas für die Augen – Visualisierung in Maßen! Haben wir das, dürfen wir unser Publikum nicht dadurch enttäuschen, dass wir keine Emotionen rüberbringen. Ich habe nach Konzerten schon oft von Nicht-Blasmusiker:innen aus dem Publikum den Satz gehört: „Ich verstehe ja nicht so viel von Musik“. Seit wann muss man als Konzertbesucher etwas von Musik verstehen? Reicht erleben und genießen nicht aus? Wir möchten unserem Publikum doch Freude bereiten und erwarten doch nicht, dass sie anschließend eine Werkanalyse oder eine professionelle Konzertkritik schreiben!
Ich habe selbst als Musikerin und auch als Besucherin eines Konzerts eines sinfonischen Blasorchesters mit Konzertprogrammen mit überwiegend originaler Blasorchesterliteratur schon volle Konzertsäle und ein begeistertes, tobendes Publikum erlebt. Und das nicht selten. Oft habe ich es erlebt, dass gerade die „abgefahrenen“, super modernen, zeitgenössischen Werke den größten Applaus bekamen. Erst kürzlich, als wir im Vereins-Sonntag-Nachmittag-Konzert von allen Ensembles des Freiburger Blasorchesters Turbulences von Alexandre Kosmicki gespielt haben, ist das Publikum schier ausgeflippt. Und nach Poema Alpestre von Franco Cesarini gab es Standing Ovation – aber das war klar, bei diesem wundervollen Werk… Das berührt! Das Publikum an diesem Nachmittag bestand hauptsächlich aus den Familien des Kinderblasorchesters, der Erwachsenenbläserklasse Prelude und unserem Mittelstufenorchester Interlude. Also nicht unbedingt ein Publikum, das sich in Sachen sinfonischer Blasmusik auskennt.
Wir müssen hart daran arbeiten, dass die Menschen wissen, was sie an den Sinfonischen Blasorchestern haben. Dazu gehört: Qualität abliefern!
Die wichtigsten Punkte zusammengefasst:
Wir brauchen in den großen sinfonischen Blasorchestern…
- … eine interessante, attraktive Programmzusammenstellung mit Abwechslung und Vielfalt
- … ein umfangreiches Marketing mit einem ausgewogenen Marketing-Mix
- … eine professionelle Konzertgestaltung mit Überraschungen und Visualisierung
- … Qualität und Emotionen in der dargebrachten Musik
- … Selbstbewusstsein der Musiker:innen und deren Liebe und Leidenschaft zur sinfonischen Blasmusik
Sinfonische Blasorchester, die diese Punkte „drauf haben“ gibt es Gott sei Dank und deren Konzerte sind auch gut besucht.
Und wenn nur 250 Leute im Publikum sind, denen das Konzert gefällt, so freuen wir uns darüber! Die Analyse erfolgt intern unter Ausschluss der Öffentlichkeit und bleibt im Orchester. Aus dieser Analyse lernen wir für das nächste Konzert.
Einen Gedanken habe ich noch. Ich spiele ja selbst in einem Orchester, das vorzugsweise originale, zeitgenössische Blasorchesterwerke spielt. Ich habe auch jahrzehntelang in einem Auswahlorchester der Region gespielt. Auch in diesem haben wir viele neue Werke, teilweise recht „abgefahrene“ wie ich es nenne – also durchaus auch mit ungewohnten Klängen – gespielt. Ich habe schon an dutzenden von Orchesterwochen teilgenommen. Auch jeweils mit neuen, zeitgenössischen Werken und hauptsächlich Originalwerken. Wir als Musiker proben diese Werke intensiv, teilweise über Wochen hinweg. Wir kennen sie in- und auswendig, wenn wir sie dann im Konzert aufführen. Der/die Zuhörer:in hört das Werk genau einmal. Es „rast“ quasi an ihm/ihr vorbei. Das Publikum hat nur diese Minuten, die das Werk dauert (das können bei großen Werken schon mal von 10 bis hin zu 40 oder mehr sein) um Genuss zu haben, mitgenommen zu werden und sich gedanklich darauf einzulassen. Oft sind es vermutlich nur Sekunden, in denen in den Köpfen und Herzen des Publikums „ein Urteil“ über das Werk gefällt wird. Ein Mensch, der nicht täglich oder wöchentlich mit dieser Art der Musik konfrontiert wird, kann damit schon mal überfordert sein. Das war aber damals, als die Menschen zum ersten Mal eine Beethoven- oder später eine Mahler-Sinfonie hörten auch nicht anders. Aber wenn wir solche Werke geschickt zwischen zwei „wohlklingendere“ Werke verpacken, eventuell auch eine Einführung vor dem Konzert durchführen und über Jahre hinweg unserem Publikum diese Werke in jedem Konzert konsequent anbieten, stellt sich auch eine Akzeptanz und ein Wohlwollen diesen interessanten Werken gegenüber ein.
Nun muss ich natürlich noch die Werke bei Wettbewerben und Wertungsspielen beleuchten… Denn der Facebook-Post oben handelte ja in erster Linie von der gespielten Literatur bei einem Wettbewerb. Der Schreiber führte den leeren Saal auf die Tatsache zurück, dass die Literatur niemand hören möchte.
Ich selbst kann es ja auch nicht verstehen, warum die Säle bei den Wertungsspielen und Wettbewerben nicht voll sind. Blasmusiker:innen müssten doch eigentlich ein Interesse daran haben zu hören, wie die anderen Blasorchester spielen!?
Aber haben die Musiker:innen, nachdem sie ihre eigene Leistung abgeliefert haben, tatsächlich noch Lust, Musik zu hören? Nach der Anstrengung darf auch feiern angesagt sein…
Sind die Pflichtstücke „schuld“ daran, wenn der Saal nicht voll ist? Nun, manche Pflichtstücke, die ich selbst schon bei Wertungsspielen gespielt, gehört oder auf Pflichtlisten gesehen habe, sind wirklich zum Abgewöhnen. Und manchmal sind es politische Gründe, warum sie Pflichtstück geworden sind und keine musikalischen. In den letzten Jahren ist das jedoch tatsächlich besser geworden – habe ich das Empfinden (ich kann immer nur von meinen Erfahrungen berichten, aber ich kann Euch versichern, dass ich meine Augen und Ohren überall habe… Ich versuche es zumindest).
Warum die Säle bei Wertungsspielen und Wettbewerben nicht voll sind, kann auch andere Gründe haben. Wertungsspiele und Wettbewerbe sind Veranstaltungen, die genauso professionell beworben werden müssen, wie Konzerte auch. Möglicherweise wird dafür einfach zu wenig oder falsch geworben.
Vielleicht können wir auch unsere Wertungsspiele und Wettbewerbe anders gestalten. Hier habe ich schon einmal ein neues Wettbewerbskonzept des Kanton Zug vorgestellt, das ich prima finde: Attraktives Wettbewerbskonzept beim Zuger Musikfestival . Die Gestaltung als Mini-Konzerte ohne Pflichtstücke und Einteilung in Klassen war für das Publikum sehr attraktiv. Das Konzept “Wertungsspiel zuhause” finde ich allerdings völligen Nonsens.
Übrigens: Bei den großen internationalen Wettbewerben wie Flicorno d’oro oder beim WMC in Kerkrade sind die Säle vor allen Dingen bei den Orchestern der oberen Leistungsstufen voll! Gleiches gilt für die Nationalen Brass Band Meisterschaften beispielsweise in der Schweiz. Bei den Europäischen Brass Band Meisterschaften muss man rechtzeitig Tickets bestellen, dass man überhaupt einen Platz bekommt… Beim Höchstklassen-Wettbewerb im Juni 2023 in Luzern, den ich komplett angehört habe, war der Saal die meiste Zeit richtig gut gefüllt. Das große KKL! Wer schon da war, weiß, wie riesig der Saal ist. Die Orchester auf der Bühne wurden ausgiebig gefeiert. Und das, obwohl teilweise richtig abgefahrene Originalmusik gespielt wurde! Den ausführlichen Beitrag dazu könnt Ihr hier lesen: Höchstklassige Blasmusik mit den besten Blasorchestern der Schweiz.
Ihr seht: So einfach sind die Fragen „Für wen spielen wir eigentlich?“ oder „Spielen wir am Volk bzw. Publikum vorbei?“ nicht zu beantworten. Wir haben in unserer „sinfonischen Blasorchesterszene“ sicherlich noch viel zu tun. Einer kritischen Selbstanalyse sollte sich jedes dieser Orchester immer wieder unterziehen. Es gibt viel Verbesserungspotential in unseren Orchestern an sich und in unserer Außendarstellung. Packen wir es an. Es lohnt sich.
Beitragsbild: Feldmusik Sarnen unter der Leitung von Sandro Blank beim Höchstklassen-Wettbewerb 2023 im KKL, Luzern, Schweiz.