Gibt es ein Disziplin-Problem in den Musikvereinen?

„Gibt es ein Disziplin-Problem in den Musikvereinen?“ Dies ist keine rhetorische Frage. Sie wurde mir ganz konkret kürzlich in einer Zukunftswerkstatt gestellt.

Nun muss ich zugeben, dass ich mit dem Wort „Disziplin“ so meine Probleme habe. Vielleicht könnt ihr das nachvollziehen… Es gehört für mich in eine frühere Welt, in der „gefolgt“ und „gehorcht“ werden musste, da es sonst Konsequenzen hatte. Ihr wisst was ich meine.

Was steckt hinter der Frage “Gibt es ein Disziplin-Problem in den Musikvereinen?” ? Ganz konkret geht es um folgende Punkte, die in den Zukunftswerkstätten wirklich sehr oft – meistens – in der Analysephase in diesem Zusammenhang genannt werden:

  1. Schlechter Probenbesuch
  2. Kurzfristige / keine Abmeldung
  3. Unpünktlichkeit
  4. Fehlende / langsame Rückmeldungen in Konzertmeister (alt: Doodle, WhatsApp)
  5. Unruhe in der Probe
  6. Dirigenten-Ansagen werden nicht in die Noten eingetragen

Alles Punkte, die unter „fehlende Disziplin“ eingeordnet werden können. Falls Ihr diese Probleme aus Euren Musikvereinen kennt, könnte schon festgestellt werden, dass es Disziplin-Probleme gibt…

Wenn wir unsere Musikgemeinschaften ansehen, sagt uns allein unser gesunder Menschenverstand, dass eine zielführende, erfolgreiche Probenarbeit nur dann möglich ist, wenn sich jede:r an gewisse Regeln hält. Das Wort „Disziplin“ umschreibt das ziemlich gut, ist aber mittlerweile negativ behaftet und irgendwie aus der Zeit gefallen.

In Zeiten zunehmender Individualisierung scheint das Einhalten dieser Regeln für jeden Einzelnen schwieriger zu werden. Zudem priorisiert jeder einzelne seine Aktivitäten auf die jeweils eigene Weise.

Wir brauchen möglicherweise heutzutage eine andere Wort-Wahl, die den Begriff „Disziplin“ ersetzt. Allerdings kommen wir bei weiterem Nachdenken in diesem Zusammenhang auf das Wort „Motivation“ – und das finde ich persönlich auch nicht viel besser, da es auch nicht “zu greifen” ist.

Musikalische Auswirkungen

Nähern wir uns der Lösung oben genannter Probleme zunächst einmal mit den musikalischen Auswirkungen.

  1. Schlechter Probenbesuch

Wenn in einer Zukunftswerkstatt das Problem „schlechter Probenbesuch“ thematisiert wird, geht gleich der Marathon der Rechtfertigungen los… Für die aktuelle Probensituation ändert sich jedoch nichts, wenn einer mit einem vermeintlich „guten Grund“ fehlt, oder einfach keine Lust hat, in die Probe zu gehen. Die Person fehlt. Punkt. Musikalische Auswirkung: Im schlechtesten Falle werden über Wochen hinweg die gleichen Stellen geprobt. Intonation und Klangausgleich können nicht geprobt werden, wenn nicht alle des jeweiligen Registers da sind oder alle Register unvollständig besetzt sind. Und wenn es ganz schlimm kommt: Erst im Konzert sitzen wirklich alle gemeinsam auf der Bühne… Bei einem durch’s Jahr eher schlechten Probenbesuch (= durchgängig mehr als 10-20% Fehlenden) kann sich das Orchester musikalisch nicht weiterentwickeln. Die musikalische Weiterentwicklung brauchen wir jedoch für den Erfolg des Musikvereins und die damit zusammenhängenden Erfolgserlebnisse der einzelnen Musiker:innen (weil motivierend!).

Besonders gravierend ist die Abwesenheit von Musiker:innen in der Anfangszeit von neuen, jungen Mitgliedern. Zu oft allein auf der Stimme, ohne Hilfe, erzeugt Frust. Ganz davon abgesehen, dass die „älteren“ Musiker:innen Vorbilder sind… (oder im Falle des häufigen Fehlens eben keine guten Vorbilder im Sinne der Gemeinschaft.)

Das Thema Probenanwesenheit habe ich auf dem Blasmusikblog schon einmal thematisiert: Das leidige Thema „Probenanwesenheit“.

2. Kurzfristige / keine Abmeldung

Hier sollten wir unterscheiden zwischen kurzfristigen oder versäumten Proben-Absagen und kurzfristigen oder versäumten Auftritts-Absagen. Während es musikalisch gesehen in der Außendarstellung des Musikvereins bei Proben-Absagen eher wenig Auswirkungen hat, so wirkt sich eine kurzfristige oder eine versäumte Absage eines Auftritts direkt auf den Erfolg des Auftritts aus.

Kurzfristige Proben-Absagen oder unentschuldigtes Wegbleiben sind für einen Dirigenten, der sich gewissenhaft auf eine Probe vorbereitet, ein Graus. Im schlechtesten Fall, wenn sehr viele fehlen, kann er seinen ganzen Plan umwerfen. Wenn das „mal“ vorkommt, kein Problem! Kommt das ständig vor: nervig! Es ist eine Frage der Zeit, wie lange ein Dirigent das mitmacht. Logisch verlangen die anwesenden Musiker:innen eine tolle Probe mit einem gut gelaunten Dirigenten – sie sind schließlich da. Aber kann die Dirigentin ihren Unmut zu Gunsten der Anwesenden immer verbergen? Oder ist das nicht auch manchmal zu viel verlangt?

Noch schlimmer, wie eben schon geschrieben: kurzfristige Abmeldungen oder unentschuldigtes Fehlen bei Auftritten. Das beeinflusst direkt die Qualität des Auftritts und wirkt sich direkt negativ auf die Außendarstellung des Musikvereins aus („Hast Du gesehen? Der Musikverein ist auch nur noch ein mickriges Häufle.“)

Eine kurzfristige Suche nach Aushilfen stresst im Übrigen extrem vor einem Auftritt.

3. Unpünktlichkeit (unpünktlicher Probenbeginn, unpünktliches Probenende)

Wenn eine Probe von 20.00 – 22.00 Uhr angesetzt ist, beginnt sie dann pünktlich, wenn der/die Dirigent:in um 20.00 Uhr den Taktstock hebt und der erste Ton geblasen wird. Sie endet pünktlich, wenn der/die Dirigent:in um 22.00 Uhr ihn niederlegt und allen eine gute Nacht wünscht.

Dieses Vorgehen des Dirigenten ist zunächst einmal entscheidend für die Zeit-Kultur der Probe im Musikverein. Wartet der Dirigent, bis alle da sind, kommen die Pünktlichen nächste Probe gewiss nicht mehr pünktlich… Ein Teufelskreislauf beginnt. Schlimm für den Dirigenten, wenn von 35 Musiker:innen um 20.00 Uhr nur 20 spielbereit auf ihrem Stuhl sitzen. Hier heißt es: stark sein und mit diesen 20 beginnen! Jeder der danach kommt, ist zu spät.

Die musikalische Auswirkung der Unpünktlichkeit: Die Netto-Zeit der Probe reduziert sich. Die Zeit wird nicht effektiv für das Proben ausgenutzt. Es dauert sehr viel länger, bis Werke tatsächlich aufführungsreif sind. Für das Überziehen der Probe stellt sich die Frage, wie effektiv dann noch gearbeitet werden kann, wenn Musiker:innen auf den Stühlen rumrutschen und auf die Uhr sehen. Frust entsteht sowohl beim unpünktlichen Probenbeginn als auch beim unpünktlichen Probenende.

4. Fehlende / langsame Rückmeldungen in Konzertmeister (alt: Doodle, WhatsApp)

Das Ab- bzw. Anmeldemanagement sowie die Umfragen, welche Musiker:innen bei einer Auftrittstermin-Anfrage „da sind“ um entscheiden zu können, ob ein Termin angenommen wird oder nicht, nehmen mittlerweile in den Musikvereinen einen großen Raum ein.

Zuerst dachten wir, Doodle oder die WhatsApp-Gruppe könnte den Vereinsverantwortlichen helfen. Mittlerweile haben die meisten Musikvereine Konzertmeister (oder eine ähnliche App). Die Probleme von Doodle oder der WhatsApp-Gruppe haben sich größtenteils jedoch nur verlagert.

Ich wollte die musikalischen Auswirkungen der vermeintlichen „Disziplin“-Probleme, speziell in diesem Abschnitt die fehlenden bzw. zu langsamen Rückmeldungen, beschreiben. Wenn sich die Musiker:innen nicht zurück melden, hat das die Auswirkung, dass Auftritte nicht angenommen werden. Der Konzertmeister zeigt es schließlich…

Wann haben wir eigentlich damit aufgehört es als selbstverständlich, quasi als die „Normalität“, anzusehen, dass wir uns zwar freiwillig entschlossen haben, in einem Blasorchester zu spielen, dass damit aber einhergeht, dass es normal ist, in jeder Probe, bei jedem Auftritt, bei jedem Konzert und jedem Arbeitseinsatz da zu sein? Wann haben wir damit begonnen, sich zu einer Probe „anzumelden“? Und warum eigentlich?

5. Unruhe in der Probe

Kennt Ihr das: Jedes Mal, wenn der/die Dirigent:in „abreißt“ um eine musikalische Passage zu verbessern und dafür den jeweiligen Musiker:innen die Anweisungen zu geben, geht ein Gemurmel los. Oft mit der Folge, dass der/die Dirigent:in sehr laut sprechen muss (=anstrengend) und einige dann nicht mitbekommen, wo es genau weitergeht (=nervig für alle). Musikalische Auswirkung der Unruhe: Es kann nicht effektiv an den Werken gearbeitet werden. Der Verbesserungsprozess wird verlangsamt.

6. Dirigenten-Ansagen werden nicht in die Noten eingetragen

Haben alle bei Euch einen Bleistift in der Probe dabei? Hoffentlich. Denn das ist die Grundvoraussetzung, um etwas in die Noten eintragen zu können. Und einzutragen gibt es vieles: geänderte Dynamik-Zeichen auf Grund des Klangausgleichs, Artikulationszeichen, Atemzeichen, Anweisungen zum Charakter der Stelle, etc. Musikalische Auswirkungen: die gleichen Stellen müssen immer wieder geprobt werden, denn kein Mensch kann sich alle Anweisungen merken. Der Dirigent sagt immer wieder: „Tragt Euch das bitte ein“… Und ewig grüßt das Murmeltier… Es nervt. Dirigent:in und die „disziplinierten“ Musiker:innen sind frustriert.

Teufelskreislauf und/oder Spirale abwärts

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in den Musikvereinen die genannten 6 Disziplin-Probleme – wo sie denn bis anhin bestehen – in den Griff bekommen. Denn alles, was nervt, alles, worüber sich die Musiker:innen und Dirigent:innen ärgern, schafft eine schlechte Stimmung. Und das können wir überhaupt nicht gebrauchen. Ein Teufelskreislauf entsteht (oder besteht eventuell schon) und es kommt der Zeitpunkt, an dem manche Musiker:innen oder gar der/die Dirigent:in keine Lust mehr hat. Die Motivation fehlt irgendwann, überhaupt in die Probe zu kommen. Die Spirale abwärts hat eingesetzt.

So langsam nähern wir uns des Pudels Kern…

Begriffsklärung und Gemeinschaftsregeln

Sehen wir an dieser Stelle einmal, was das Wort „Disziplin“ überhaupt bedeutet.

Laut Duden hat das Wort „Disziplin“ folgende Bedeutungen:

  1. Das Einhalten von bestimmten Vorschriften, vorgeschriebenen Verhaltensregeln o. Ä.; das Sicheinfügen in die Ordnung einer Gruppe, einer Gemeinschaft.
  2. Das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen.

Wir brauchen also allgemeingültige Regeln an die sich alle halten, wenn unsere Gemeinschaften musikalisch und außermusikalisch funktionieren sollen. Für Individualisten und Verfechter der uneingeschränkten Selbstbestimmung ist das Blasorchester eventuell nicht der richtige Ort der Freizeitgestaltung. Denn ein Blasorchester funktioniert nur, wenn alle am Verein arbeiten – musikalisch und organisatorisch. Es kommt auf jeden einzelnen an.

An den musikalischen Auswirkungen von fehlender „Disziplin“ sehen wir, dass das nicht einhalten dieser Regeln massiv an der Motivation derjenigen nagt, die diese Regeln (noch) einhalten. Gleichzeitig wird die Kommunikation und die Stimmung untereinander negativer. Der Ton von so manchem Vereinsverantwortlichen und/oder dem/der Dirigent:in wird schärfer. Alles das, was wir nicht wollen.

Das Blasorchester ist tatsächlich der Ort, an dem wir unsere Freizeit verbringen. Und diese freie Zeit soll uns Spaß machen, positive Erlebnisse schaffen und glücklich machen. Mit schlechter Stimmung geht das nicht…

In Gesprächen mit Vereinsverantwortlichen, die sich für eine Zukunftswerkstatt interessieren, höre ich immer wieder, „wir müssen die Musiker:innen wieder motivieren, sich einzubringen und in die Probe zu kommen“. Nun, wir können den Hund nicht zum Jagen tragen…

Von Musiker:innen höre ich immer wieder den Satz „Es ist schließlich nur mein Hobby.“ Mittlerweile geht mir nicht mehr die Hutschnur auf, wenn ich den Satz höre. Denn, ja, es ist unser Hobby. Das sagt uns aber nur, dass wir Freude, Spaß und Erfüllung haben wollen. Wenn der Satz so ausgelegt wird, dass jeder selbstbestimmt entscheidet, ob er zur musikalischen Qualität beiträgt, indem er übt oder eben nicht; oder wenn der Satz so ausgelegt wird, dass kein Termin in einem halben Jahr zugesagt werden kann, weil man ja jetzt noch nicht wüsste, was da ist… Tja, so kann die Gemeinschaft nicht funktionieren. Und Blasmusik ist eben ein Hobby, das voraussetzt, dass jeder, der sich freiwillig entschlossen hat, in den Musikverein einzutreten, dann auch die Regeln einhält, damit diese Gemeinschaft tatsächlich für alle auch funktioniert. Und nur dann macht uns allen unser Hobby Blasmusik im Verein auch tatsächlich Spaß. Motivation kann entstehen.

Vermeintliche und tatsächliche Lösung

Wir können Geschäftsordnungen mit Regeln aufstellen, die jeder unterschreibt. Wir können ein Leitbild verfassen. Wir können die oben genannten sechs Probleme in 6 Regeln umschreiben und diese quasi als unsere „Gebote“ auf Tafeln ins Probelokal hängen. Das werden alles nur kurzfristige und sich schnell abnutzende Lösungen sein.

Was wir grundsätzlich brauchen ist:

  1. Eine positive, wertschätzende Kommunikation unter- und miteinander.
  2. Eine positive Grundstimmung und Einstellung dem Blasorchester und seinen speziellen Anforderungen gegenüber.
  3. Es kommt auf jeden Einzelnen an – sowohl musikalisch als auch organisatorisch.
  4. Partizipation schaffen durch eine Verteilung der anstehenden Aufgaben gemäß Kompetenzen, Vorlieben und Zeit.
  5. Das Bewusstsein der langjährigen Mitglieder, Vorbilder für die neu hinzukommenden zu sein.
  6. Die Schaffung eines Orts einer erfüllenden Freizeitgestaltung.

Wie wir das hinbekommen? Wenn jeder, der diesen Text bis hierhin gelesen hat, nach diesen 6 Punkten agiert, wird das Kreise ziehen. Zeigt Eure Begeisterung für unser Hobby Blasmusik, steckt damit zuerst Eure Vorstandskollegen an, dann Eure Nachbarn links und rechts im Orchester, dann diejenigen, mit denen Ihr nach der Probe zusammensitzt, usw. Hierzu brauchen wir Selbstdisziplin. Denn nichts anderes ist die zweite Definition des Wortes „Disziplin“, die ich oben schon veröffentlicht habe: „Das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen.“ Und dazu gehört auch immer wieder die gesunde Selbstreflektion: Von sich selbst, der Vorstandschaft und dem ganzen Orchester.

Wer sich für eine Selbstreflektion in Form einer Zukunftswerkstatt mit meiner Moderation interessiert, schreibt mir gerne eine Nachricht:

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    Alexandra Link

    Musik ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens. Musizierende Menschen zusammen zu bringen meine Leidenschaft.

      2 thoughts on “Gibt es ein Disziplin-Problem in den Musikvereinen?

      • 13. Januar 2023 at 6:36
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        Mit diesem Beitrag hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich selbst finde mich an der einen oder anderen Stelle wieder. Vielleicht zitiere ich den einen oder anderen Satz in unser nächsten Jahreshauptversammlung. Danke dafür.

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      • 28. Februar 2024 at 15:12
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        Bravo, auf den Punkt gebracht. Habe deinen Text an alle Mitglieder versandt. Wenn nicht jetzt, wann dann….,
        Frank Bott
        Vorstand

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