Blasmusikaspekte: “Erweiterung der Besetzung”
Ein Interview mit Stefan Roth über das Thema “Von 0 auf 100 – Oder wie man es schaffen kann, ein Orchester von 16 auf 70 Musizierende zu vergrößern”
In der neuen Reihe “Blasmusikaspekte” werden im Interview mit jeweils einem Dirigenten / einer Dirigentin ein Teilbereich bzw. ein besonderer Aspekt der Blasmusik bzw unseres Musikvereinwesens diskutiert. Alle Blasmusikblog-LeserInnen sind eingeladen, sich zum Thema und den Antworten im Kommentarfeld unter dem Beitrag zu äußern! Wir freuen uns auf einen regen Austausch.
Welche Voraussetzungen müssen in einem Blasorchester bzw. Musikverein geschaffen werden, wenn die Erweiterung der Besetzung ein definiertes Ziel ist?
Stefan Roth: “Die Situation in Kreuzlingen war sehr speziell. Im Herbst 2009 stand die damalige Vereinsleitung der Stadtharmonie Kreuzlingen (heute Symphonisches Blasorchester) vor einem Scherbenhaufen. Die Teilnahme an Wettbewerben war auf Grund des geringen Mitgliederbestandes nur als Teil einer Spielgemeinschaft in der 3. Stärkeklasse möglich und Besserung war keine in Sicht. Man sah nur eine Möglichkeit, es musste eine Verknüpfung zum äusserst erfolgreichen Blasorchester der Jugendmusik Kreuzlingen erstellt werden. Die Jugendmusik Kreuzlingen war zu diesem Zeitpunkt erstmals amtierender Schweizermeister in der Höchststufe und der Parademusik und dessen junger Dirigent Stefan Roth hatte mit Ihnen und anderen Orchestern seine ersten Top-Platzierungen erzielt.
Die Vereinsleitung wagte das scheinbar
Unmögliche und bat mich das Dirigentenamt des sechzehnköpfigen Orchesters zu
übernehmen. Es war ein schwieriger und riskanter Entscheid. Einen kaum
spielfähigen Verein mit Durchschnittsalter von knapp 60 Jahren zu übernehmen
schien auf den ersten Blick wenig reizvoll und erfolgsversprechend. Ich sah
jedoch das Potenzial im Besonderen in Kombination mit der Jugendmusik
Kreuzlingen, da eine
Zusammenarbeit der beiden Vereine bis dahin kaum stattfand.
Für mich war aber klar, dass ein Erwachsenenorchester nur Erfolg haben kann, wenn es für die Musizierenden des Jugendorchesters einen weiteren Schritt in den musikalischen Ansprüchen bedeutet. Zudem bot sich so die Möglichkeit, dass ich sowohl den Jugend-, als auch den Erwachsenenverein in Personalunion leiten konnte, was meinen Idealvorstellungen entspricht.
Ein weiteres entscheidendes Kriterium für die Entwicklung war die Innovationsbereitschaft des Vereines, die klare Zielsetzung (2011 entstand ein Zehnjahresplan) und eine Handvoll visionärer Unterstützer für meine Ideen als Dirigent. Trotz allem war unsere Devise aber stets Qualität vor Quantität, was auch mal zu unangenehmen Entscheiden führen konnte.
Für die Zukunft wird meines Erachtens die leistungsorientierte Professionalisierung der Vereinsstrukturen ein entscheidender Schritt zur Weiterentwicklung sein.”
Was kann ein Dirigent zur Erweiterung der Besetzung beitragen und in wie weit ist die Vorstandschaft gefragt?
Stefan Roth: “In Kreuzlingen sind wir in der glücklichen Situation, dass ich Dirigent beider Orchester bin. Ich leite neben dem Symphonischen Blasorchester und dem Blasorchester der Jugendmusik ebenfalls die beiden Ausbildungsorchester JMK KIDS (ca. 9 – 12 Jahre alt) und JMK TEENS (ca. 13 – 16 Jahre alt). Somit habe ich den Überblick über alle Orchestermusikerinnen und -musiker und kann so abschätzen, wer auf welchem Level spielt und für einen Übertritt ins nächste Orchester geeignet ist. Diese Kontrolle nehme ich auch beim Wechsel vom Blasorchester der Jugendmusik Kreuzlingen zum Symphonischen Blasorchester Kreuzlingen wahr. Dabei biete ich den geeigneten Musizierenden den freien Platz in unserem Orchester an. Ob sie den freien Platz haben möchten und bereit sind, unsere Anforderungen zu erfüllen, muss jeder Kandidat selbst entscheiden. Wir bieten unsere Plätze im Normalfall nur Mitgliedern an, die schon 18 Jahre alt sind und somit auch selbst entscheiden können, ob sie bereit sind Zeit zu investieren für unser Orchester. Als Dirigent habe ich also den Hauptanteil an der Erweiterung der Besetzung, wobei es nicht alleine an mir liegt, die möglichen Musizierenden anzufragen. Wir haben hierzu eine Musikkommission. Diese ist verantwortlich für alle musikalischen Belange im Verein, unter anderem die Akquise von neuen Mitgliedern. Die Vorstandschaft im Symphonischen Blasorchester Kreuzlingen soll das optimale Umfeld für die Musizierenden schaffen.”
Wie sieht für Dich die optimale Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Vorstandschaft aus?
Stefan Roth: “Als Dirigent bin ich für alle musikalischen Belange des Vereines verantwortlich und brauche hierfür auch die notwendige Kompetenz Entscheide zu fällen. Da wir ein Musikverein sind, möchte ich bei allen Entscheidungen, welche die musikalische Entwicklung, die musikalische Ausrichtung oder auch entscheidende Personalentscheide betreffen, eingebunden werden. Operative Entscheide kann die Vereinsleitung ohne mich treffen, wenn strategische Entscheide anstehen, möchte ich zwingend das Mitspracherecht haben. Bei vielen Vereinen liegt das Problem der Zusammenarbeit beim Vorstand. Ist dieser doch meist im Ehrenamt tätig und kann sich nicht im selben Mass wie ein gut ausgebildeter Dirigent mit der Materie «Orchester» befassen. Ideal ist, wenn Vorstand und Musikkommission meine musikalischen Ziele mittragen.”
Von 16 auf nunmehr 70 Musizierende in nicht einmal 10 Jahren: Wie hat das Symphonische Blasorchester Kreuzlingen dies geschafft?
Stefan Roth: “Dies liegt an der in Frage 1 beschriebenen Ausgangslage.
Wir konnten in den ersten vier Jahren die Mitgliederzahl mehr als verdoppeln, weil auf einmal Musizierende aus dem Blasorchester der Jugendmusik Kreuzlingen ins Symphonische Blasorchester wechselten oder zusätzlich dort spielten. In den Folgejahren konnten wir die Mitgliederzahl zudem dank an unserem qualitativ hochstehenden Produkt interessierten Musizierenden steigern. Unser Standortproblem am Rande der Schweiz wurde dank der Universitätsstadt Konstanz auf einmal aufgehoben. Interessierten sich doch diverse Studierende der Universität Konstanz für unser Symphonisches Blasorchester.
Einer der wichtigsten Gründe, dass sich Musizierende für ein Mitwirken im Symphonischen Blasorchester Kreuzlingen entscheiden, sind die musikalischen Perspektiven und die hohe Qualität des Orchesters, sowie die Wettbewerbsreisen im In- und Ausland, wobei hier die Wechselwirkung von Aufwand und Erfolg besonders zum tragen kommt.”
In wie weit hat die eigene Jugendarbeit im Verein die Erweiterung der Besetzung bewirkt und welchen Anteil haben Musizierende, die von außerhalb hinzu gestoßen sind?
Stefan Roth: “Die hohe Qualität der Ausbildungsstätte Jugendmusik Kreuzlingen (eigener Verein, siehe unten) macht es uns etwas einfacher an qualifizierte Musizierende aus den eigenen Reihen zu kommen. Wir haben aber immer wieder das Glück an von ausserhalb hinzu gestossene zu kommen. Dies vor allem dank der Universitätsstadt Konstanz (DE). Die Anzahl verteilt sich dabei zu je 50% auf Mitglieder aus der Jugendmusik Kreuzlingen und Mitglieder von Ausserhalb. Leider ist der Weg zur Akzeptanz als Leuchtturm der Thurgauer / Ostschweizer Blasorchesterszene noch weit und der Neid und die Angst vor der Abwanderung motivierter Musizierenden bei den meisten Vereinen der Region noch zu gross.”
Welche Vorstandstrukturen hat das Symphonisches Blasorchester Kreuzlingen?
Stefan Roth: “Die Vereinsleitung des Symphonischen Blasorchesters Kreuzlingen besteht zurzeit aus einem nach traditionellem Schweizer Vereinswesen organisierten Vorstand, der Musikkommission und dem musikalischen Leiter, wobei bis auf den Dirigenten alle ehrenamtlich tätig sind. Dabei versuchen wir immer wieder Vereinsmitglieder projektbezogen in die Organisation verschiedener Events oder Aufgaben miteinzubeziehen.
In den letzten Jahren hat die Vereinsleitung erkannt, dass sich der Verein nach der exponentiellen musikalischen Entwicklung auch organisatorisch neu positionieren muss.
Aufgrund dessen hat sich meine Ehefrau Petra Roth, gleichzeitig auch Leiterin des Sekretariats des Symphonischen Blasorchesters Kreuzlingen, entschieden, ihre Masterarbeit im Studiengang «Business Administration» zum Thema «Business Development für leistungsorientierte Vereine in der Schweiz am Beispiel des Symphonischen Blasorchesters Kreuzlingen» zu verfassen.
Dabei erhoffen wir uns neue Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für eine zukunftsorientierte Organisation der Vereinsführung zu erhalten, welche wir in den kommenden Monaten an verschiedenen Strategieveranstaltungen mit der gesamten Vereinsleitung und interessierten Vereinsmitgliedern entwickeln wollen.”
Wie ist die Jugendarbeit in Kreuzlingen organisiert?
Stefan Roth: “Der grosse Vorteil in Kreuzlingen im Hinblick auf die Jugendarbeit ist die vereinstechnische Trennung von Jugendmusik und Symphonischem Blasorchester. Die Jugendmusik Kreuzlingen ist ein eigenständiger Verein mit eigener, kantonal anerkannter und mit Unterstützungsbeiträgen finanzierter Musikschule und einem vierstufigen Ausbildungskonzept. Die Gewaltentrennung zwischen Ausbildung und Erwachsenenverein ist damit garantiert und beide Organisationen können unabhängig voneinander ihr wirken und ihre Ziele unabhängig voneinander verfolgen. Zu einer sehr guten Zusammenarbeit zwischen dem Jugend- und Erwachsenenverein trägt bei, dass fünf von sieben Mitgliedern der Vereinsleitung der Jugendmusik Kreuzlingen im Symphonischen Blasorchester mitspielen und ich beide Orchester dirigiere.
Wir möchten unseren Schülerinnen und Schüler möglichst früh das Mitwirken in einem Ensemble ermöglichen. Seit Februar 2018 ist dies an der Jugendmusik Kreuzlingen nach einem halben Jahr Unterricht möglich (Niveau Bläserklasse). Es folgen die JMK KIDS (Grad 2) und JMK TEENS (Mittelstufe). Ab einem Alter von 16 Jahren folgt das Blasorchester der Jugendmusik Kreuzlingen (Höchststufe). Die Jugendmusik Kreuzlingen hat eine eigene Vereinsleitung, einen angestellten Musikschulleiter und Dirigenten, wobei diese beiden mit der Leiterin Finanzen die Musikschulleitung bilden.”
Der Übergang von den Jugendensembles bis hin zum Symphonischen Blasorchester ist in manchen Musikvereinen schwierig. Wie funktioniert das in Kreuzlingen?
Stefan Roth: “Mit viel Geduld – die Herausforderungen sind in Kreuzlingen die gleichen wie überall. Durch die Unterteilung der Ausbildung im Kinder-/Teenageralter in Altersgruppen von ca. drei Jahren (9-12, 13-16) können wir die Interessen der Orchestermitglieder besser abdecken und die Kräfte so besser bündeln. Die Schere zwischen den Besten und den Schwächsten geht nicht soweit auseinander, dass wir nach oben oder nach unten Ausreisser haben. Somit ist eine konstante und stetige Weiterentwicklung und eine damit einhergehende Weiterentwicklung garantiert. Die jungen Musizierenden möchten nach zwei bis drei Jahren wie im Sport die nächste Leistungsstufe erreichen und durch die Kontinuität wird der Leistungsanstieg beim Wechsel des Orchesters nicht zu gross.
Trotzdem hinkt der Stellenwert des Musizierens dem einer sportlichen Betätigung noch immer nach. Da besteht Aufholbedarf. Wir arbeiten daran!”
Welche Regeln gibt es für den Übergang von den JMK Kids und Teens in die Jugendmusik und von der Jugendmusik ins Symphonische Blasorchester?
Stefan Roth: “Zurzeit ist der Einstieg in die JMK KIDS prüfungsfrei. Falls sich das neue JMK Einsteigerensemble etabliert, werden wir voraussichtlich eine erste Prüfungsstufe einführen. Grundsätzlich muss der Einstieg in die Orchesterwelt aber prüfungsfrei sein (dies wäre mit dem JMK Einsteigerensemble gegeben).
Die Prüfungsanforderungen sind:
JMK KIDS
Niveau Stufentest 2 (Aufgabestück aus dem Repertoire der JMK KIDS)
JMK TEENS
Niveau Stufentest 3 (Aufgabestück aus dem Repertoire der JMK TEENS)
BO JMK
Niveau Stufentest 4 (Aufgabestück aus dem Repertoire des BO JMK)
SBO Kreuzlingen
JMK: auf Anfrage (Entscheidung Dirigent)
Externe: auf Anfrage oder bei Interesse eines Musizierenden,
Gespräch und im Regelfall Vorspiel -> neben der musikalischen Qualität ist uns die Bereitschaft, die Ziele und Visionen des Vereines mitzutragen, enorm wichtig.”
Vita Stefan Roth
In Winterthur geboren, verbrachte Stefan Roth seine Jugend in Aadorf und lebt heute in Bischofszell. Stefan Roth besuchte am Conservatorium in Maastricht NL den Unterricht in den Hauptfächern «HaFa Directie» bei Jan Cober, sowie «Euphonium» bei Piet Joris und schloss sein Studium 2008 erfolgreich als Bachelor of Arts in Music ab. Nach zweijährigem Masterstudium bei Ludwig Wicki, Oliver Waespi und Thomas Rüedi erwarb er 2012 als erster Schweizer an der Hochschule der Künste Bern den Titel Master of Arts in «Windband Conducting» mit Auszeichnung. Im Februar 2019 schloss Stefan Roth an der Universität Augsburg den Masterstudiengang Blasorchesterleitung bei Maurice Hamers ab. Dabei stand ihm das Musikkorps der Deutschen Bundeswehr mit in Siegburg/Bonn als Orchester für sein Abschlusskonzert zur Verfügung.
Stefan Roth bildet sich durch regelmässig besuchte Meisterkurse unter anderem bei Pierre Kuijpers, Douglas Bostock, Philip Sparke und James Barnes weiter.
Im Juli 2016 erreichte er am «1st International Conductors’ Competition» in Augsburg den 2. Rang unter 48 teilnehmenden Dirigenten aus der ganzen Welt.
Er amtet zurzeit äusserst erfolgreich als Dirigent des Symphonischen Blasorchesters Kreuzlingen, des Blasorchesters der Jugendmusik Kreuzlingen und der Liberty Brass Band Ostschweiz, der Bürgermusik Untereggen und der Uniun da Musica Sagogn.
Zudem ist er als Jury-Mitglied an diversen Wettbewerben im In- und Ausland tätig.
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