Blasmusikaspekte: Wahrnehmung der Blasmusik innerhalb der (Musik-)Gesellschaft und warum sie (fast) immer amateurbehaftet ist

Ein Interview mit Bernhard Schlögl

Bernhard Schlögl, der künstlerische Leiter der Innsbrucker Promenadenkonzerte, beschäftigte sich bereits in seiner Masterarbeit mit dem Thema, wie die Blasmusik innerhalb der Gesellschaft wahrgenommen wird. Über dieses Thema habe ich mit ihm kürzlich ein Interview geführt.

Welchen Fragen bist Du genau in Deiner Abschlussarbeit am Mozarteum nachgegangen?

Meine Abschlussarbeit beschäftigt sich im Kern mit dem Thema Innsbrucker Promenadenkonzerte, 25 Jahre Rückblick sowie Ideen, Visionen und Entwicklungskonzept für die Zukunft. In der Arbeit geht es aber zu einem großen Teil auch um die Entstehungsgeschichte von Freiluftkonzerten in den Vergnügungsgärten von London im 18. und 19. Jahrhundert, um das Aufkommen von Harmoniemusiken in der Übergangszeit vom Barock in die Wiener Klassik, den ersten niederschwelligen Promenadenkonzerten in Paris, London und Wien sowie über den Wirkungsbereich der Blasmusik. Dabei bearbeitete ich unter anderem folgende Fragen: Wo lag die Aufgabe der Blasorchester und welche Stellung nahmen sie innerhalb der Gesellschaft sowie der Kultur ein, damals wie heute? Welche Parallelen lassen sich zwischen den Entwicklungen unserer Gesellschaft, der Blasorchester und dem Musikkonsum an sich herstellen? Warum ist die Blasorchesterszene bis heute derart amateurbehaftet? Schadet unsere heutige Art des Musikkonsums den Kulturtreibenden oder der Wahrnehmung von Kunst und Kultur? Fragen über Fragen, die alle in einem historischen Kontext stehen und sich über mehrere hundert Jahre entwickelt und beeinflusst haben.

Wie hat sich unser Musikkonsum verändert und wie beeinflusst diese Entwicklung Deine Arbeit als Leiter der Innsbrucker Promenadenkonzerte?

In unserer modernen und rastlosen Welt kennt auch die Musiklandschaft scheinbar keine Grenzen mehr. Kunst darf heute alles, vor allem aber sollte sie nichts kosten. Jahrhundertelang war Kunst und somit Kunstmusik der Obrigkeit, also den Mächtigen und Reichen vorbehalten. Über die Jahre hat sich diese Ordnung verändert und demokratisiert – Musik wurde für jeden zugänglich. Promenadenkonzerte machten es bereits im 18. Jahrhundert vor und boten Konzerte zu kleinsten Preisen oder sogar kostenlos an. In den Folgejahren hat sich dieser Trend fortgesetzt und auch heute noch existiert eine hohe Anzahl an Gratis-Konzerten und Gratis-Festivals. Die Innsbrucker Promenadenkonzerte sind für Besucher:innen seit 25 Jahren kostenlos zugänglich. Auf teure Konzertkarten wird verzichtet und der Griff in die Geldtasche, um zwischen Alltag und Kunstgenuss zu wechseln, bleibt erspart. Damit fällt aber eine weitere Schwelle. Konzertbesucher:innen gehen sehr oft ohne bestimmte Erwartungen zu Konzerten und wägen nicht ab, begeistert zu werden oder nicht. Das Risiko einer kulturellen oder gar emotionalen Enttäuschung ist gering, da durch den kostenlosen oder niedrigen Eintritt zumindest nichts verloren scheint. Musik ist seit jeher von Schwellen umgeben. Obwohl die Schwelle des Hofes scheinbar lange überwunden und kein Adelstitel mehr notwendig ist, um Zugang zum Musikgenuss zu erlangen, schwebt über der sogenannten Hochkultur heute noch eine abgemilderte Form des Selbstschutzes – man bleibt immer noch gerne unter sich. Auch die dargebotenen Musikstücke selbst können als weitere Schwelle betrachtet werden. Einige Kompositionen eröffnen sich nicht von selbst oder sind selbsterklärend. Für eine Vielzahl an Werken benötigt man einen bestimmten Grad an Kontextwissen, Vorbereitung und nicht selten auch vorangegangene Hörarbeit. Niederschwellige Konzertbesuche rücken den Alltag und die Kunst-Situation nahe zusammen. Musikkonsum läuft damit aber auch Gefahr, beiläufig und unbewusst zu werden, ähnlich wie bei plätschernder Musik in überfüllten Kaufhäusern zur Weihnachtszeit. Durch die fehlende Bezahlschranke hat sich der Kunstgenuss stark verändert. Musikdarbietungen und damit verbundenen Künstlerinnen und Künstlern wird dadurch weniger Geduld entgegengebracht. Spannungsbögen in den Programmierungen, die sich oft erst im gesamten Konzertverlauf erschließen, haben es schwerer als in Konzerten, für die man einen höheren Eintritt bezahlt hat. Wenn wir uns dazu entscheiden Geld für ein Konzert zu bezahlen, haben wir uns zumeist auch explizit für dieses Konzert entschieden, was wiederum mit einer bewussten und aufmerksamen Rezeption einher geht. Unterschiede zwischen bezahlten oder kostenlosen Konzerten lassen sich auch bei den Konzertbesucher:innen selbst feststellen. Publikum, welches sich bewusst für ein bestimmtes Konzert entscheidet und dafür Kosten aufwendet, ist größtenteils homogen. Die Erwartungshaltungen sowie Ästhetik-Vorstellungen einigen und sind in der Konzertsituation kompatibel. Niederschwellige Konzerte beherbergen oft ein heterogenes Publikum, deren Erwartungshaltungen völlig unterschiedlich sein können. Hier sehe ich einen wesentlichen Unterschied zwischen der breitenwirksamen Blasmusik und Sinfonieorchestern, um der folgenden Frage vorzugreifen. Diese Tatsache stellt die beteiligten Künstlerinnen und Künstler sowie Programmverantwortliche vor eine große Herausforderung. Veranstalter sowie Dirigent:innen von Blasmusikkonzerten greifen daher sehr oft zu einem Konzept aus Kompositionen und einer Dramaturgie, welche für die Allgemeinheit sofort zugänglich ist. Dennoch geben sich viele Verantwortliche nicht immer mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden und erlauben sich teilweise behutsam dosierte Ausflüge in gewagte Musikgefilde. Die Heterogenität des Publikums kann somit auch eine Chance sein, es mit bisher unbekannten oder ungewohnten Musikformen in Berührung zu bringen und verändert zwangsläufig das Bild der Blasmusik. Diese Möglichkeit nutze ich gerne bei der Programmgestaltung der Innsbrucker Promenadenkonzerte.

Hat die Blasmusik eine Daseinsberechtigung als ernstzunehmende, professionelle Ensembleart, wie beispielsweise ein Sinfonieorchester?

Eine Abgrenzung zwischen Sinfonieorchestern und der amateurbehafteten Blasmusik begründen viele Kritiker, damals wie heute, oft mit den fehlenden Namen großer Komponisten. Dagegen gibt es aber unzählige Beispiele, welche diese Theorie ausschließen. Igor Strawinsky und Antonin Dvořák komponierten beispielsweise für Bläser, was in den Bereich der Kammermusik fällt und ähnlich “hochkünstlerisch” konnotiert ist wie sogenannte Orchestermusik. Der Ursprung dieser offenkundigen Abwertung muss also doch tiefer liegen als vermutet!? Musik im Freien ist von Natur aus öffentlich und bildet offenkundig einen wesentlichen Aspekt unserer Blasmusik. Es ist Musik für viele Menschen und man könnte sie sogar als populistisch bezeichnen, mit all den Assoziationen, die mit diesem Begriff verbunden sind. Indoor-Musik hingegen blieb dem Bürgertum lange Zeit verwehrt, was zu dem Ruf führte elitär zu sein. Dies ist eine enorme und persönliche Vereinfachung, aber im Allgemeinen haben sich diese Einstellungen wohl über die Jahrhunderte hinweg in unserer Gesellschaft gehalten. Wo Sinfonieorchester spielen, da ist die Kulturberichterstattung nicht fern. Blasmusik hingegen wird, auch auf höchstem Niveau, kaum wahrgenommen. Warum diese Ignoranz? Ich versuche mich an einer kurzen Erklärung: Im neunzehnten Jahrhundert begannen die Menschen die Kunstaufwertung als eine Möglichkeit zu fördern, sich selbst zu verbessern. Sie waren auch der Meinung, dass man ausgebildet werden müsse, um “hohe” Kunst, insbesondere Musik, wirklich zu verstehen und zu schätzen. Diese Verbindung gilt in der Regel für klassische Musik, aber weniger für die Blasmusik. Entscheidend ist dabei auch, in welchem Kontext Musik gemacht wird. Theodore Thomas, Dirigent des Chicagoer Symphonieorchesters spielte Wagner, Liszt und Tschaikowsky in dem Glauben, dass er sein Publikum damit erziehen würde – John Philip Sousa spielte Wagner, Liszt und Tschaikowsky in der Hoffnung, dass er sein Publikum damit unterhalte. Aufgrund ihrer Popularität und ihrer Verbindung zur Unterhaltung leiden Blasorchester sehr stark unter dem Stigma des Amateurwesens. Obwohl es professionelle Blasorchester gibt, hat die Welt der klassischen Musik sie nur langsam, wenn überhaupt, als gleichwertig zu professionellen klassischen Orchestern akzeptiert. Namhafte klassische Orchester tragen immer auch das Gewicht kultureller Institutionen und sind ein Teil des Bürgerstolzes. Sie erhalten mehr Respekt und Mäzenatentum und nutzen ihr Image als Anbieter “hoher” Kunst. Aber ist die Musik von klassischen Orchestern wirklich eine höhere Kunst als die von Blasorchestern, was immer das bedeuten mag? Die öffentliche Wahrnehmung von Blasmusik und ihrer Beziehung zu anderen Musikarten ist definitiv komplex. Spricht unser Umfeld von klassischen Orchestern, fallen in der Regel große Namen wie der Wiener-, Münchner-, Berliner-, Londoner-, New Yorker Philharmoniker. Niemand denkt dabei ernsthaft an die vielen Laien-, Universitäts- oder Musikschulorchester. Geht es um die Blasmusik, wird vorschnell über einen Kamm geschert. Warum herrscht in diesem Genre keine derartige Differenzierung? Schon in Ihrer Frage steckt die Annahme, dass Sinfonieorchester immer professionell und jedem Blasorchester überlegen sind. Wie würde sich die Wahrnehmung der Blasmusik demnach wandeln, wenn man die besten Blasorchester Europas ab sofort nur noch mit Laienorchestern vergleichen würde? Auf jeden Fall denke ich, dass Blasmusik durch Reaktionen der Komponisten auf die Erwartungen des Publikums geprägt wurde. Sie ist an sich nicht weniger künstlerisch als jede andere Musikform und ihr populistischer Ruf hat ihr eine Geschichte verliehen, die sich von anderen Instrumentalmusikstilen unterscheidet.

Ich würde mir selbst wünschen, dass die Blasmusik ähnlich differenziert betrachtet wird, wie es innerhalb der klassischen Musik längst der Fall ist, das hätte sich diese Orchesterform allemal verdient. 

Blasmusik = Amateure, Sinfonieorchester = Profis: Welche Argumente können wir Blasmusiker dem entgegensetzen?

Auch dieses Bild entstand wohl während der großen Gründungswelle von Vereinen nach 1848, wo auch ein Großteil der Musikkapellen entstanden ist. Während in den Städten hauptsächlich ausgediente Militärmusiker die Gründung voranbrachten, betätigten sich am Dorf musikalische Veteranen oder oft auch Lehrer an der Zusammenführung vorhandener Musiker (damals noch ohne Frauen) zu einer Musikkapelle. Die musikalischen Aktivitäten der Musikkapellen beinhalteten hauptsächlich kirchliche Aufgaben oder trugen zum gemeinschaftlichen sowie gesellschaftlichen Dorfleben bei. Interessant zu beobachten war auch die Tatsache, dass sich in der Gesellschaft zwei unterschiedliche Ströme entwickelten. Während das gehobene Bürgertum eher zu Gesangsvereinen und Sinfonieorchestern tendierten, bestand ein Großteil der Blasmusiker aus dem handwerklichen, bäuerlichen oder dienstleistenden Bereich und gehörten somit der Mittelschicht an. Das Amt des Kapellmeisters übernahm sehr oft ein Lehrer oder Organist sowie ehemalige Militärmusiker.Wir stellen somit auch hier wieder fest, dass dieses Bild des Amateurwesens in unserer Geschichte verankert ist und es nun an uns liegt, dieses Bild innerhalb der Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Ich bin dennoch überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind und sich bereits ein Wandel abzeichnet. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass wir noch nicht lange über eine wirklich breite Fülle an ernstzunehmenden Originalkompositionen sowie entsprechenden Auftrittsmöglichkeiten verfügen. Am Ende können wir nur mit einem Argument überzeugen, welches wir unbeirrt und konsequent verfolgen sollten: Qualität!

Über das Image der Blasmusik: Wie sieht das in Österreich überhaupt aus? Oder anders gefragt: Welchen Stellenwert hat die Blasmusik in Österreich?

Unlängst titelte eine österreichische Zeitung in einer Überschrift zu den mehr als fragwürdigen Corona-Bestimmungen in der Blasmusik (Maskenpflicht während der Probe): „Bei Kirchen- und Volksfesten sorgen Holz- und Blechbläser für die musikalische Umrahmung und Stimmung“. Zugegeben, man soll sich ja nicht auf einzelne und kurze Statements versteifen. Diese Überschrift vermittelt für mich allerdings das vorherrschende Gesellschaftsbild unserer Blasmusik in Österreich. Ich bin auch froh und stolz darüber, dass Blasmusik unzählige Festlichkeiten umrahmt und für die entsprechende Stimmung sorgt. Für das dörfliche Leben ist eine Musikkapelle nicht wegzudenken und maßgeblich an Prozessionen, Dorffesten oder Geburtstagsständchen beteiligt. Das ist ein wunderbares Gut und für unsere gewachsene Kultur von unschätzbarem Wert.

Für die Intentionen und das Image der Innsbrucker Promenadenkonzerte sowie den vielen professionellen oder semiprofessionellen Blasorchestern, die sich dem hochwertigen Konzertdasein verschrieben haben, ist diese Verallgemeinerung und der Beigeschmack „Bierzelt“ allerdings weniger dienlich. Ich wünsche mir in Österreich, wie bereits erwähnt, eine Differenzierung und Wahrnehmung der Blasmusikszene.

Nehmen Blasmusiker:innen die Blasmusikszene anders wahr als die Menschen, die kein Blasinstrument gelernt haben?

Nach meiner Erfahrung hängt die Wahrnehmung nicht zwangsläufig davon ab, ob jemand selbst in einer Blasmusik mitspielt oder nicht. Anhänger von seichter Unterhaltungsmusik oder schwieriger Wettbewerbsliteratur finden sich auf beiden Seiten. Der Zugang zur Musik hängt wohl eher von den individuellen Ansprüchen, Gewohnheiten und Hörerlebnissen ab. Wenn ich mich ausschließlich von Musik aus den Radio Charts berieseln lasse, wo jeder Track ungefähr die gleiche Dauer, dieselben drei Akkordfolgen und ein gleichbleibendes Tempo hat, kann ich mit komplexen Werken wohl eher wenig anfangen und umgekehrt. Die Wahrnehmung der Blasmusik lässt sich nur schwer vereinheitlichen und bietet sehr viel Raum für Diskussionen. Ein individueller Geschmack entsteht nicht zufällig und unterliegt einer sozialen Verankerung. Der individuelle Musikgeschmack ist ein Teil des persönlichen Lebensstils, von Orientierungen und Verhaltenspraktiken. Man könnte also daraus schließen, dass der Musikgeschmack einiges über den Lebensstil selbst verraten kann. Umgekehrt kann man von Mustern des Kulturkonsums auf den Musikgeschmack schließen. Aus soziologischer Sicht liegt die Erklärung in der menschlichen Einbettung in Strukturen sozialer Ungleichheit und der damit einhergehenden Gruppenzugehörigkeit. Unser Musikgeschmack sowie unser Lebensstil hängen stark von unserer Bildung, unserem Beruf, unserer Generation, unserem Alter, unserem Geschlecht sowie ethnischer Zugehörigkeit ab. Diese Kategorisierung beeinflusst unsere Prägung maßgeblich und begleitet uns für gewöhnlich unser gesamtes Leben lang. Mit einer Tatsache werde ich aber immer öfter konfrontiert, was mich wirklich verärgert. Innerhalb der Blasmusikszene treffe ich sehr oft auf eine Ablehnung von allem, was sich vom dörflichen Musizieren alla Umrahmen und Unterhalten abhebt und eine gewisse Niveaugrenze überschreitet. Ich vermute, dass sich diese Abneigung aus einem Zusammenspiel von Neid, Unwissenheit und Stolz ergibt. Dazu passt wohl ein altes Sprichwort: „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht“.

Was können wir Blasmusiker bzw. die Musikvereine tun, um der Gesellschaft die Vielfalt der Blasmusik von der traditionellen Blaskapelle bis hin zum Großen Sinfonischen Blasorchester nahe zu bringen und siehst Du dies überhaupt als notwendig an?

Ich finde wir tun ohnehin schon sehr viel und präsentieren uns der Gesellschaft in einer großen Vielfalt. Ein Gesellschaftswandel vollzieht sich nicht in wenigen Jahrzehnten. Wir müssen geduldig sein und am Ende immer dem Wesentlichen dienlich sein – der Musik. Es gibt heute eine Vielzahl an wunderbaren Komponist:innen, die der Blasmusik durch ihre Musik ein neues Image verleihen. Wir wissen aber auch, dass Veränderungen ihre Zeit brauchen und vorerst oft auf Missverständnisse stoßen. Hier fällt mir Ludwig van Beethoven ein. Er brach mit der Tradition von Bachs roboterhaften Fugen, Haydns tänzerischen Streichquartetten sowie Mozarts Hofmusik und war einer der ersten der sich traute, offen seine Gefühle zu vertonen. Beethoven war und ist eine Leitfigur, die menschgewordene Brücke zwischen Klassik und Romantik, ein Zyniker, ein leidenschaftlicher Mensch, ein einsames Genie. Neue Entwicklungen bringen also immer auch neue Ideen, andere Sicht- und Herangehensweisen sowie einen gewissen Leichtsinn mit sich.  „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert“. Dieses Zitat von Albert Einstein empfinde ich als hilfreichen Denkanstoß, denn die Aufgabe der Kunst ist doch Veränderung!?

Wie siehst Du die Entwicklung der Blasorchester-Szene in Österreich im Vergleich zu Deutschland bzw. dem restlichen Europa?

Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland fehlen vielen Ländern Europas musikhistorisch stilprägende Zentren, wie sie an Fürstenhöfen und in Großstädten entstanden sind und dort zum Kern einer nationalen Musikgeschichtsschreibung wurden. Wien, Berlin, Dresden oder Leipzig waren beispielsweise musikalische Hotspots Europas, mit all den großen Meistern wie Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn, Franz Schubert uvm. Darum können viele andere Länder nur von einer übernationalen Perspektive ausgehen, bei der die Beziehungen zu ausländischen Kulturräumen und Zentren beachtet werden. Die zivile Blasorchester-Szene in Österreich und Deutschland hat sich aus dieser Geschichte und den vielen Militärorchestern entwickelt und bis heute eine Fülle an Marschliteratur bewahren können – für diese Märsche werden wir vielerorts beneidet. Österreichische sowie deutsche Blasorchester haben sich über viele Jahre einen unvergleichlichen Klang angeeignet, der sehr stark durch diese Marschmusik sowie Bearbeitungen sinfonischer Literatur aus Opern und Operetten geprägt wurde. Diese Entwicklung hebt uns deutlich von unseren Nachbarländern ab. Heute existiert innerhalb der Blasorchester-Szene ein fast schon globales Idealbild eines Orchesterklangs sowie einer internationalen Besetzung und lässt unseren Ursprung immer weiter verblassen. Charakteristische Merkmale in Klang, Besetzung und Literatur verschwinden demnach zusehends. Ich persönlich sehe diese Entwicklung allerdings gelassen, da ich selbst ein Anhänger dieser klanglichen Moderne sowie Originalwerken bin. Vielleicht kommt die Zeit, in der wir von einem gewissen Einheitsbrei genug haben und unser Ursprung eine Renaissance erlebt.

Was sind die großen Stärken der Blasorchester-Szene in Österreich? Wo siehst Du noch Entwicklungspotenzial?

Die größten Stärken unserer Blasorchester-Szene sind die vielen Transkriptionen und Märsche, die von den k. u. k. Kapellmeistern selbst verfasst wurden und leider in einigen Notenarchiven verstauben. Diese Literatur wird, wie im vorhergehenden Absatz beschrieben, immer weiter vernachlässigt und von pseudo Volksmusik wie „Best of Gabalier“ verdrängt. Österreich verfügt darüber hinaus über ein bestens organisiertes Musikschulsystem. Diese Ausbildungseinrichtungen bieten von der musikalischen Früherziehung bis zum Konzertdiplom hervorragende Arbeit, was sich auch im künstlerischen Output der Schüler:innen widerspiegelt. Das spielerische Niveau österreichischer Musiker:innen ist weitum bekannt und belebt naturgemäß auch die Blasorchester-Szene. Entwicklungspotenzial sehe ich allerdings in der Förderung von Auswahlorchestern. Diese werden kaum oder nur notdürftig unterstützt, verebben mit der Zeit oder kommen kaum über den Grad der Mittelmäßigkeit hinaus. Unser Land bräuchte aber dringend musikalische Speerspitzen, die als Vorbild dienen, repräsentieren und aufzeigen, was Blasmusik kann.  

Was wünschst Du Dir für die österreichische und die europäische Blasmusikszene für die Zukunft?

Aufgrund der aktuellen Lage wünsche ich mir, dass der Kollateralschaden 

dieser Krise unsere Blasorchester nicht allzu hart trifft und wir bald wieder diesem wunderbaren Hobby oder Beruf nachgehen können. Für die Szene in und um Österreich wünsche ich mir persönlich einen stärkeren Fokus auf einen höheren, künstlerischen Qualitätsanspruch. Für meinen Geschmack verfällt die Blasmusik vielerorts zu sehr dem Zwang der seichten Unterhaltung, was dem Image zwangsläufig schadet.

Vita Bernhard Schlögl

Bernhard Schlögl

Bernhard Schlögl lebt mit seiner Frau Elisabeth und seiner Tochter Paulina (*2021) in der Nähe von Innsbruck. Bereits im Alter von 6 Jahren besuchte er die städtische Musikschule Hall i.T. und erlernte dort knapp 12 Jahre lang das Akkordeonspielen. Mit Eintritt in die Musikmittelschule in Innsbruck kamen Euphonium und Posaune bei Lito Fontana dazu. Nach der Musikschulabschlussprüfung und Preisen bei „prima la musica“, folgte ein Konzertdiplomstudium im Fach Posaune am Tiroler Landeskonservatorium. Im Anschluss an das Gymnasium mit Musikschwerpunkt in Innsbruck und dem Präsenzdienst bei der Militärmusik Tirol, leitete er eine private Musikschule im Großraum Hall. Zurück am Tiroler Landeskonservatorium folgten die Fächer Blasorchesterleitung und Probenpädagogik bei Prof. Hermann Pallhuber und Prof. Thomas Ludescher, die er, nach Prüfungskonzerten mit der Sächsischen Bläserphilharmonie, mit dem Tiroler Dirigenten-Abzeichen in Gold abschließen konnte. Bernhard studierte weiters Musik- und Instrumentalpädagogik (Abschluss Mag.art/M.A.) in den künstlerischen Hauptfächern Gesang, Posaune, Dirigieren und Ensembleleitung an der Universität Mozarteum Salzburg. An der Bundesakademie Trossingen besuchte er den Lehrgang für internationale Juroren und bildete sich bei Jan Cober, Thomas Clamor, Thomas Doss, Isabelle Ruf-Weber, Rolf Schumacher, Francoise Pierre Descamps u.a. im Fach Dirigieren fort. Er war Kapellmeister der Bundesmusikkapelle Ellbögen und Bezirkskapellmeister des Musikbezirks (Kreisverband) Wipptal-Stubaital. Derzeit ist Bernhard Musiklehrer an einem Gymnasium mit Musikschwerpunkt in Innsbruck, seit 2019 künstlerischer Leiter der Innsbrucker Promenadenkonzerte und gefragter Dozent/Juror im In- und Ausland. Als Dirigent leitet er das Auswahlorchester des Nordbayerischen Musikbundes, das Sinfonische Blasorchester Tirol und die Stadtmusik Hall in Tirol.

Innsbrucker Promenadenkonzerte

Die Innsbrucker Promenadenkonzerte finden vom 3. – 31. Juli 2022 in der Hofburg Innsbruck statt. Alle Informationen: Innsbrucker Promenadenkonzerte.

Alexandra Link

Musik ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens. Musizierende Menschen zusammen zu bringen meine Leidenschaft.

    3 thoughts on “Blasmusikaspekte: Wahrnehmung der Blasmusik innerhalb der (Musik-)Gesellschaft und warum sie (fast) immer amateurbehaftet ist

    • Pingback: Die Reihe “Blasmusikaspekte” auf dem Blasmusikblog – Blasmusik

    • 3. Mai 2022 at 18:57
      Permalink

      danke Alexandra – für diese weitreichende Ausführung über unser “Hobby” Blasmusik im Zusammenhang mit dem äußerst erfolgreichen Musiker. So viele Aspekte zu Instrument spielen und Kultur im Land durch Orchester lesen sich doch wie “Honig auf dem Butterbrot”. In Zukunft hoffe ich auch, dass unsere künftige Jugend aus guter Schulmusik!! und bester Vereinsarbeit mit allen nur denkbaren Instrumenten zusammenspielen lernt—-Durchsetzen wird sich immer das, was den Leuten gefällt!.

      Reply
    • Pingback: Blasmusikblog Monatsrückblick Mai 2022 – Blasmusik

    Schreibe einen Kommentar zu Hubert Milz Antworten abbrechen

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert