Über den Anfang und die Einspielphase einer Musikprobe – Teil 2

“Wie gestaltest Du den Anfang und die Einspielphase einer Probe?”

Das ist die Frage, die ich in den vergangenen Monaten verschiedenen DirigentInnen gestellt habe. Im heutigen Beitrag – Teil 2 dieser Serie von insgesamt 7 – beantwortet Franco Hänle aus Ulm diese Frage.

Franco Hänle
Franco Hänle

Franco Hänle ist derzeit als Dozent für Dirigieren an der Berufsfachschule für Musik des Regierungsbezirks Schwaben in Krumbach beschäftigt sowie als freischaffender Dirigent, Musiklehrer und Arrangeur sehr aktiv.

Zur Zeit dirigiert er die Stadtkapelle und die Jugendkapelle Ulm, das Kreisverbandsjugendblasorchester Ulm/Alb-Donau und die Feuerwehr-Musikkapelle Dagersheim. Er ist Mitglied des Vorstands von WASBE International.

Die Frage „Wie gestaltest Du den Anfang und die Einspielphase einer Probe?“ beantwortet Franco Hänle wie folgt:

„Die Frage ist für mich interessant, da sie einerseits auf das „sogenannte Einspielen“ abzielt aber genauso den Beginn einer Probe meint. Ist das denn immer das Selbe? Für mich jedenfalls sind das zwei unterschiedliche Bedeutungen, wie ich später noch erläutern werde.

Doch richten wir den Blick erst einmal zu anderen musikalischen Ensembles und deren gängige Praxis. Inhaltliche Quervergleiche beispielsweise bei Sitzordnungen, Programmgestaltung, Probenplanung aber auch Aufbau und Gestaltung einer Probe mache ich ständig und ich finde die daraus gewonnenen Erkenntnisse immer wieder spannend und inspirierend für die Blasorchesterszene. Der Fokus liegt hier jedenfalls beim Probenbeginn.

Bei Kammer- und Sinfonieorchestern, egal ob professionell oder bei Liebhaberorchestern, bin ich noch nie einem Prozess begegnet, der unserem „Einspielen“ gleich käme. Üblicherweise beginnt alles mit einem etablierten Ritual: Der Konzertmeister übernimmt das A der Oboe und reicht dieses weiter. Nachfolgend stimmen die Bläser und ggfs. die Pauke und dann übernimmt der Dirigent die Regie für die Probe oder das Konzert.

Bei Chören steht am Beginn der Probe oder auch des Konzertes immer ein Block „Einsingen und Stimmbildung“. Die wesentlichen Merkmale sind hierbei, dass auf der einen Seite ein kollektives „physisches Aufwärmen“ stattfindet (Aktivierung der Stimme etc.), aber auch klangliche Elemente integriert werden, beispielsweise die Vokalbildung o.ä. Darüberhinaus findet ein „geistiges Aufwärmen“ statt, um möglichst schnell ein Gruppenbewusstsein aufzubauen und sich zusammen zu finden.

Nun bedarf es noch einer begrifflichen Trennung. „Einspielen, Aufwärmen, WarmUps, Tune-Ups, u.v.m. sind oft verwendete Schlagwörter, die in diesem Zusammenhang benutzt werden. Für mich ist eine Differenzierung sehr wichtig. „Einspielen und Aufwärmen“ in der Musik ist für mich gleichbedeutend wie das Aufwärmen beim Sport: Es findet vor dem eigentlichen Spiel (oder Probe/Konzert) statt und ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass „gut aufgewärmt gespielt“ werden kann, sowohl beim Sport als auch in der Musik.

Sicherlich gibt es Kapellen in denen es üblich ist, dass vor der Probe jeder nur sein Instrument aufbaut und man dann gemeinsam die ersten Töne spielt. Probenzeit ist aber sehr kostbar und da das Aufwärmen auch in Eigenregie erfolgen kann bin ich der Meinung, dass sich jeder Musiker/in einige Minuten vor Probenbeginn einfinden und individuell einspielen sollte. Bei Berufsorchestern und semiprofessionellen Ensembles ist dies ein etablierter Standard. Denken wir nochmals kurz zurück an den Vergleich mit den Sinfonieorchestern. Hier wäre es äußerst merkwürdig für die meisten Musiker wenn ein gemeinsames Einspielen stattfände.

Der Anfang einer Probe hingegen ist einfach die Art und Weise, wie oder womit in die Probenarbeit eingestiegen wird und die Gestaltung dessen obliegt damit dem Dirigenten. Der Anfang einer Probe (Probenphase 1) kann also ein „kollektives Aufwärmen“ enthalten, aber auch viele andere Möglichkeiten stehen hier zur Verfügung. Hierbei finde ich den Blick zu den Chören wieder sehr inspirierend. Wie eingangs erwähnt, werden hier Elemente der Stimmbildung und Atemtechnik geübt, am Klang und Ton gearbeitet, aber v.a. auch das Zusammengehörigkeitsgefühl und der Sinn für die Gruppe aktiviert.

Hiervon können wir einige Elemente auf unseren Probenbeginn übertragen. Nachfolgend möchte ich einige Ideen aufzeigen.

Vorbereitung einer schwierigen Passage

Oftmals haben unsere Konzertstücke ein rhythmisches Element, welches entweder noch nicht beherrscht oder aber unterschiedlich ausgeführt und interpretiert wird. Mit einer kleinen vorbereitenden Übung, bei der das Ensemble noch keine Noten vorliegen hat, sondern sich ausschließlich auf das Hören konzentriert, kann solch eine schwere Stelle pädagogisch gut vorbereitet werden. Überwiegend kleben die Musiker zu sehr an den Noten in der Probe und davon gilt es, sie regelmäßig durch Übungen ohne Notentext zu befreien.

Tonleiterspiel

Sicherlich hat jeder schon einmal zum Beginn eine Tonleiter im unisono gespielt. Aber muss es jedes Mal B-Dur zum Selbstzweck sein? Anknüpfend an die Vorbereitung zur Probenarbeit ist es denkbar, auch eine unübliche Tonleiter, die in einem späteren Werk vorkommt, vorab zu üben. Man darf sich ruhig mal trauen auch klingend E-Dur oder d-moll harmonisch mit dem Orchester zu üben. Das Erkennen von Tonleiterausschnitten in Werken ist ein tolles Aha-Erlebnis für Musiker.

Grundstimmung und Intonation

Ich habe grundsätzlich nichts gegen B-Dur oder andere Tonleitern. Aber wer hat schon mal versucht, diese in einem völlig dunklen Raum zu spielen? Gerade die Wintermonate eigenen sich gut dafür, da die Sonne rechtzeitig unter geht. Erstaunlicherweise hört ein Orchester viel besser und passt sich auch in Grundstimmung und Intonation schneller an, wenn man diese Übung im Dunklen durchführt, denn wir blenden damit das Sehen aus und die Musiker können sich auf das Hören viel mehr fokussieren. Oder als Alternative kann man auch mit Blasorchestern kleine Singübungen zu machen, z.B. Durdreiklänge singen etc. Die musikalische Vorstellung und das innere Hören wird dabei zunehmend entwickelt.

Balance

Bei Tonleitern kann der Dirigent wertvolle Balanceübungen mit einbauen, sodass beispielsweise pro Ton ein vom Dirigent benanntes Register den Gesamtklang dominieren sollte. Die Hörwahrnehmung wird geschärft und das Bewusstsein für den Klang geschult.

Tonbildung, Klangarbeit, Atemübungen und Choräle

Ich fasse nun einige Aspekte zusammen, die ebenso (wie bei den Chören) Bestandteil der ersten Probenphase sein sollten. Wenn wir ein Bewusstsein für einen guten Klang schaffen wollen, dann bedingungslos schon beim Probenbeginn. Hin und wieder verwende ich einen Choral für den Probenbeginn, da damit die wesentlichen Inhalte des Klanges, der Atmung, Phrasierung und des aufeinander Hörens geübt werden können. Besonders möchte ich hierbei den Dirigentenkollegen/innen empfehlen, einfach mal vierstimme Choräle selbst für das eigene Blasorchester zu instrumentieren. Ich habe das einige Zeit regelmäßig praktiziert und man lernt dabei viel über sein Orchester als auch das Instrumentieren für Blasorchester, wovon ich bis heute beim Erstellen von Arrangements profitiere.

Nonverbale Kommunikation

Die erste Probenphase bietet sich auch dazu an, dass das Orchester lernt, die Signale und Gesten des Dirigenten noch besser in Musik zu übersetzen. Oftmals beklagen wir Dirigenten uns darüber, dass das Orchester nicht so spielt „wie wir wollen“ bzw. dirigieren, aber es liegt nicht immer am nicht vorhandenen Willen des Orchesters, sondern es kann auch am Verständnis liegen. Gerade den Musikern von Jugendorchestern oder auch Orchestern, bei denen lange ein Dirigent vorne stand, der kaum über sein Dirigat kommunizierte, muss das Verstehen der „Sprache des Dirigenten“ erst erlernt und geübt werden. Vielleicht mal einen kurzen und vertrauten Ausschnitt eines Werkes mit dem Orchester mehrmals hintereinander spielen und dabei immer anders dirigieren bzw. musikalisch etwas anderes wollen – nach meiner Erfahrung macht das auch einem Ensemble oft viel Spaß und man profitiert langfristig von einem besseren Verständnis der Musiker vom eigenen Dirigat.

Mentale Synchronisation

Der für mich wichtigste Inhalt beim Probenbeginn ist kein direkt musikalischer Punkt. Bereits eingangs erwähnte ich beim Beispiel der Chöre auch das Schaffen eines Bewusstseins für die Gruppe – ich nenne das „mentale Synchronisation“ der Musiker, sowohl unter sich als auch mit dem Dirigenten. Ich schaue stets vor dem Probenbeginn in das Orchester und erkenne recht schnell, wie der mentale Zustand der Leute ist. Es gibt oftmals äußere Einflüsse, die den Fokus noch von der Musik auf sich ziehen und ich sehe es als unsere wichtigste Aufgabe, sie von den „Ablenkungen durch die Umwelt“ zu befreien und die Gedanken und Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Musizieren zu lenken. Bei allen zuvor genannten Beispielen für musikalische Elemente in der ersten Probenphase steckt ja auch ein wenig mentale Synchronisation. Ich möchte diesen Aspekt jedoch extra erwähnt haben, weil er für mich persönlich der allerwichtigste ist. Dieser muss bei mir in jedem Element vorhandenen sein und erst wenn ich das Gefühl habe, dass das Gruppenbewusstsein und der Fokus entstanden und vorhanden ist, dann verlasse ich die Probenphase 1 und setze mit dem Hauptteil der Probe fort.

Zusammenfassung

Der Anfang einer Probe ist nicht zwingend gleichzusetzen mit einem Einspielen, das ein bloßes Aufwärmen und Töne spielen meint. Für mich ist es aber auch völlig in Ordnung, wenn ein Dirigent mit seinem Orchester immer mit dem gemeinsamen Einspielen beginnt. Die Entscheidung liegt hier beim Dirigenten – für mich ist dafür jedoch wie bereits erwähnt die ohnehin knappe Probenzeit zu kostbar.

Die ersten Minuten einer Probe sind von großer Bedeutung und es ist sehr wichtig, dass hier entweder ohne Notentext an grundsätzlichen Elementen gearbeitet oder ein nachfolgendes Stück pädagogisch vorbereitet wird. Das Herstellen des Kontaktes vom Dirigenten zum Orchester als auch die mentale Synchronisation der Musiker untereinander sind wichtige Ziele.

Ich würde mich freuen, wenn viele Kollegen ein wenig inspiriert wurden und künftig in der Blasorchesterlandschaft weniger „B-Dur zum Einspielen – wie immer“ erklänge.

Ulm, im Juli 2018

Franco Hänle

www.francohaenle.com

 

Ein herzliches Dankeschön an Franco Hänle für die ausführliche Antwort! Im nächten Beitrag, Teil 3 der Serie beantworten Marianne Halder und Dominik M. Koch die Frage „Wie gestaltest Du den Anfang und die Einspielphase einer Probe?“

 

Teil 1 – Joop Boerstoel und Stéphane Dellay
Teil 2 – Franco Hänle
Teil 3 – Marianne Halder und Dominik M. Koch
Teil 4 – Jochen Lorenz und Michael Meininger
Teil 5 – Gunnar Merkert und Alois Papst
Teil 6 – Joachim Pfläging und Philip Steffe
Teil 7 – Mathias Wehr und Wolfgang Wössner

 

[Werbung]

Weiteres Notenmaterial für die Orchesterschulung, für das Warm-Up und generell für die Einspielphase einer Musikprobe:

[the_ad id=”8412″]

 

[Werbung]

 

[the_ad id=”6968″]
[the_ad id=”2866″]
[the_ad id=”3092″]
[the_ad id=”6965″]

Alexandra Link

Musik ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens. Musizierende Menschen zusammen zu bringen meine Leidenschaft.

    2 thoughts on “Über den Anfang und die Einspielphase einer Musikprobe – Teil 2

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert